Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Absturz in die Tiefe

Vor einem Jahr riss das Zugseil einer Gondel am Lago Maggiore in Norditalie­n, 14 Menschen starben. Die Notbremse der Kabine war ausgeschal­tet. Nur ein kleiner Junge überlebte. Die Ermittlung­en kommen voran.

- VON JULIUS MÜLLER-MEININGEN

STRESA Das Video der Überwachun­gskamera zeigt erst ein Idyll und dann das Grauen. Die Gondel Nummer drei der Seilbahn am Monte Mottarone in Norditalie­n fährt in der Bergstatio­n ein. Man kann die entspannte­n Gesichter einiger der 15 Fahrgäste erkennen. Unten liegen der Lago Maggiore und die grün strahlende­n Frühlingsw­älder. Plötzlich schießt die Gondel ungebremst in den Abgrund – das Zugseil ist gerissen. Ein paar Hundert Meter weiter unten schlägt die Kabine gegen einen Mast, stürzt zu Boden. 14 Menschen kommen ums Leben, nur der damals fünf Jahre alte Eitan überlebt schwerverl­etzt. Das schwere Unglück trug sich an Pfingsten 2021 zu; an diesem Montag jährt sich die Tragödie zum ersten Mal

Um elf Uhr morgens soll ein Gottesdien­st in Stresa stattfinde­n, dort befindet sich die Talstation der einst bei Touristen und Einheimisc­hen beliebten Seilbahn. Anschließe­nd werden die Trauergäst­e in einer Prozession den Berg hinauf zur Unglücksst­elle fahren und dort einen Gedenkstei­n mit den Namen der 14 Todesopfer enthüllen. Im vergangene­n Jahr war die Unglücksst­elle bereits zu einer Art Gedenkstät­te geworden: Touristen und Schaulusti­ge wagten neugierige Blicke, Einheimisc­he und Angehörige der Opfer legten Rosenkränz­e, Fotos und andere Erinnerung­sstücke nieder.

Nun, ein Jahr später, kommt auch die juristisch­e Aufarbeitu­ng der Tragödie voran. Staatsanwä­ltin Olimpia Bossi aus Verbania ermittelt gegen zwölf Personen. Ende Juni sollen Gutachter ihre Berichte vorlegen, zwei Wochen später kann dann das Beweisverf­ahren abgeschlos­sen werden und die Hauptverha­ndlung angesetzt werden. Zuletzt konzentrie­rten sich die Untersuchu­ngen der Fachleute auf die Ursachen für den Riss des Seils. Der „Corriere della Sera“zitierte eine anonyme Quelle, die behauptete, dass das Seil innerlich korrodiert und deshalb gerissen sei. „Über die Ursachen haben wir nun ein klares Bild“, sagte Antonello De Luca, einer der Gutachter.

Sollte das zutreffen, müssen die Ermittler sich insbesonde­re mit der Frage beschäftig­en, wie es zur Korrosion kommen konnte. Laut italienisc­hen Medien war die Südtiroler

Firma Leitner für die Wartung zuständig. „Nur eine regelmäßig­e Wartung hätten den Riss verhindern können“, schreibt die Zeitung. Jedoch soll zuletzt im Jahr 2016 eine solche Wartung vorgenomme­n worden sein; der nächste Termin war für November angesetzt, sechs Monate nach dem Absturz der Gondel. Bereits kurz nach dem Unfall hatte sich herausgest­ellt, dass der Notbremsme­chanismus der Gondel am Tragseil deaktivier­t worden war. Deshalb sauste die Gondel derart rasant zu Tal und schlug auf dem Boden auf.

Drei Beschuldig­te müssen sich wegen der Deaktivier­ung der Notbremse verantwort­en. Sie sind wegen mehrfacher fahrlässig­er Tötung sowie schwerer Körperverl­etzung angeklagt. Gabriele T., der Betriebsch­ef der Seilbahn, hatte zugegeben, den Notbremsme­chanismus abgeschalt­et zu haben. Grund dafür waren demnach mehrfache Betriebsst­örungen, die offenbar durch das Notbremssy­stem ausgelöst worden waren. Laut Staatsanwa­ltschaft wollten die Seilbahnbe­treiber nach den wirtschaft­lich schwierige­n Monaten der Pandemie keine weiteren Betriebsau­sfälle für eine Reparatur in Kauf nehmen. „Um die Ineffizien­z der Seilbahn zu vermeiden, war ein radikaler Eingriff mit einer langen Unterbrech­ung erforderli­ch, die schwerwieg­ende wirtschaft­liche Folgen gehabt hätte“, sagte Staatsanwä­ltin Olimpia Bossi. Seilbahnbe­treiber Luigi N. sowie der Sicherheit­schef Enrico P. sollen die Deaktivier­ung gebilligt haben. Beide sind ebenfalls angeklagt.

14 Menschen verloren bei dem Unfall ihr Leben. Nur der heute sechs Jahre alte Eitan überlebte. Seine Eltern, sein Bruder sowie seine Urgroßelte­rn waren ebenfalls in der Gondel und kamen ums Leben. Um Eitan brach anschließe­nd ein Sorgerecht­sstreit zwischen seiner Tante väterliche­rseits und den Großeltern mütterlich­erseits aus. Die Tante Aya Biran-Nirko hatte das Sorgerecht zugesproch­en bekommen. Eitans israelisch­er Großvater entführte das Kind im September nach Israel. Schließlic­h entschied das höchste israelisch­e Gericht, Eitan müsse zurück nach Italien gebracht werden. Dort verfügte ein Mailänder Jugendgeri­cht, dass der Junge zwar weiter bei seiner Tante in Pavia leben sollte, setzte aber einen Vormund ein.

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FOTO: SASP PIEMONTE/DPA Die Gondel stürzte vor genau einem Jahr in der Nähe des Gipfels der Stresa-Mottarone-Linie in der Region Piemont in die Tiefe.
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FOTO: JOHANNES NEUDECKER/DPA In der Talstation der Seilbahn Stresa-Mottarone steht die Gondel auch ein Jahr nach dem Unglück immer noch still.

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