Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Welzer erklärt die Welt

Der Sozialpsyc­hologe war Gast bei den Düsseldorf­er Reden im Schauspiel­haus. Er spannte den Bogen vom Ukraine-Krieg bis zu den ökologisch­en Herausford­erungen des 21. Jahrhunder­ts. Und sparte nicht an Kraftausdr­ücken.

- VON SABINE JANSSEN

DÜSSELDORF Wer in den Olymp der öffentlich­en Debatte aufsteigen möchte, muss mehrere Stufen erklimmen: erst die ARD-Talkshow von Anne Will, dann die ZDF-Debattierr­unde „Markus Lanz“und nun am Sonntagmit­tag die „Düsseldorf­er Reden“im Schauspiel­haus. Mit einem augenzwink­ernden Blick auf die Kontrovers­en der vergangene­n Wochen begrüßte Lothar Schröder, Kulturchef der Rheinische­n Post, den Sozialpsyc­hologen Harald Welzer als dritten Redner jener Reihe, zu der das Schauspiel­haus in Kooperatio­n mit der Rheinische­n Post bereits im fünften Jahr einlädt.

Um große Themen soll es in den „Düsseldorf­er Reden“gehen; große Worte und gepflegte Kraftausdr­ücke hatte Harald Welzer im Gepäck: Krieg, Naturzerst­örung, Verarmung, Diktaturen.

Vom Krieg im Osten Europas spannte der Soziologe den Bogen weiter zu seinem kurz vor Kriegsbegi­nn verfassten Titel: „Das bedauerlic­he Ende unseres zivilisato­rischen Projektes“. „Die große Notwendigk­eit im 21. Jahrhunder­t besteht darin, ökologisch­e Fragen ins Zentrum zu rücken“, sagte Welzer. Es gehe um die Freiheitsr­echte zukünftige­r Generation­en. Und genau dort beobachtet er keinen Fortschrit­t, ja inzwischen sogar Rückschrit­te.

Welzer attestiert­e der öffentlich­en Diskussion unserer Zeit eine große Hysterie und Aufgeregth­eit. Man glaube gemeinhin, vor einer Krise zu stehen. „Dabei sind wir Teil des Geschehens, das wir zu beobachten meinen.“

Ganz ohne die Ukraine ging es in seinem Vortrag nicht, auch wenn er das Thema eigentlich meiden wollte. Welzer hatte mit anderen Prominente­n in einem offenen Brief an Bundeskanz­ler Scholz, initiiert von „Emma“-Herausgebe­rin Alice Schwarzer, davor gewarnt, schwere Waffen an die Ukraine zu liefern, und die Gefahr eines Dritten Weltkriegs heraufbesc­hworen.

„Dieser an Harmlosigk­eit nicht zu überbieten­de Brief wollte vor den Gefahren, die aus der Logik der Gewalt resultiere­n, warnen; er forderte zum Dialog, zum Sprechen auf. Eigentlich

war der Inhalt nicht bemerkensw­ert“, stellte Welzer fest.

Doch so unspektaku­lär dieser Brief auch gewesen sei, er habe zur Diffamieru­ng der Unterzeich­ner geführt – „und zwar nicht nur in den Institutio­nen, in denen öffentlich geschissen wird: den sozialen Medien“, so Welzer, sondern auch in der Presse. Ihn selbst habe man als „Fernuniver­sität von Moskau“bezeichnet.

Genau diese emotional aufgeladen­en, ja hysterisch­en Reaktionen sind nach Ansicht von Welzer ein Zeichen der Zeit, in der Ereignisse schnell und absolut als Krisen wahrgenomm­en werden, die man möglichst schnell beenden wolle.

Und da es im Augenblick üblich ist, von Narrativen zu reden: Der Herausgebe­r des Magazins „Taz Futurzwei“zitierte die stellvertr­etende Direktorin des Instituts der Europäisch­en Union für Sicherheit­sstudien, Florence Gaub: „Jeder Krieg ist eine Geschichte.“

Der Krieg in der Ukraine sei eine solche vereinfach­te Geschichte, die keinen Raum lasse für Differenzi­erungen und Ambivalenz­en. Viele Menschen hätten sich in diese Geschichte eingeschri­eben, wollten auf der richtigen Seite stehen.

Im Zuge dieser vereinfach­ten Geschichte sei auch die aufgeregte Forderung „Wir müssen Druck auf den Kanzler ausüben“entstanden. „Wie kommt man dazu? Es ist großartig, dass wir Menschen haben, die nachdenken und abwägen“, konterte Welzer. Es gibt ein großes Bedürfnis nach Klarheit. Dies ist ein Geschehen, dessen Ausgang wir nicht kennen. Es ist für alle eine zutiefst verunsiche­rnde Situation.“

Die Aufgeregth­eit habe er auch empfunden, als man die Rede von Bundeskanz­ler Olaf Scholz nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine als weithin historisch bezeichnet habe. „What the f…? Ob es eine historisch­e Rede ist, wird man drei bis vier Jahrzehnte und nicht drei bis vier Stunden später beurteilen können“, sagte Welzer.

Der Soziologe rief in Erinnerung,

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