Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
Vom Ende denken – und darüber hinaus
Seit drei Monaten herrscht wieder Krieg in Europa. Der 24. Februar 2022 wird in die Geschichtsbücher eingehen: als der Tag, an dem russische Truppen in die Ukraine einfielen. Drei Monate sind eine lange Zeit für die Menschen dort, jeder weitere Tag bringt Angst, Leid und Tod. Drei Monate sind aber auch, aus der Distanz betrachtet, eine kurze Zeit, denn Kriege dauern häufig Jahre. Gerade hat die Ukraine das Kriegsrecht um 90 Tage verlängert; es gilt nun bis zum 23. August. Am Tag danach, also ein halbes Jahr nach Kriegsbeginn, begeht sie ihren Unabhängigkeitstag, doch dürfte sie dann noch keinen Frieden feiern können. Nächstes Jahr, übernächstes Jahr? Hoffentlich bald.
Sicher ist nur: Jeder Krieg endet irgendwann. Die Ukraine hat große Chancen, dank ihrer eigenen Kampfkraft und der Hilfen vor allem der USA, aber auch der Europäischen Union tatsächlich ihre Unabhängigkeit zu verteidigen. Koste es, was es wolle. Dass sie komplett an Russland fällt, lässt sich nahezu ausschließen, weil der Westen das nicht zulassen kann. Die Ukraine und Russland werden also Nachbarn bleiben – als souveräne Staaten. Am Ende des Kriegs muss eine Einigung stehen, so unvorstellbar das heute, drei Monate nach seinem Beginn, auch scheinen mag. Inzwischen formuliert Präsident Wolodymyr Selenskyj als Ziel, die komplette Souveränität zu erhalten, einschließlich der D Krim und des Donbass. as Ziel des Angreifers lässt sich weniger leicht verstehen. Offensichtlich geht es nicht um territoriale Ansprüche allein, sondern um die Vernichtung der Ukraine, als Nation, als Kultur. Sie soll nicht nur wie in Sowjetzeiten Teil des Imperiums sein, sondern verschwinden. Wladimir Putin spricht von einem Kampf gegen Faschisten, und diese Propaganda schlägt im eigenen Land durch. Doch das Kriegsziel hat womöglich nur am Rande mit der Ukraine selbst zu tun. Putins Bestreben ist nicht erst seit drei Monaten, den Westen zu destabilisieren – auf jede erdenkliche Art. Ob mithilfe von Bomben, Gaspipelines oder Facebook: Stets geht es darum, den Westen zu schwächen. Das Ergebnis des Kalten Kriegs soll revidiert, die Geschichte neu geschrieben werden.
Der Begriff der Zeitenwende, den der Bundeskanzler geprägt hat, trifft daher die richtige Dimension. Daraus erwächst eine Verpflichtung; die Zeitenwende zu konstatieren und zu erdulden, reicht nicht aus, sondern sie muss gestaltet werden. Olaf Scholz wird vorgeworfen, bei der Lieferung schwerer Waffen gezögert zu haben, was doch einem deutschen Regierungschef zugestanden sein sollte. Nicht zögern darf er allerdings bei dem Bemühen, die Zeitenwende zugunsten langfristiger deutscher Interessen zu gestalten. Es kann nicht genug sein, gemeinsam mit den USA der Ukraine beizustehen, Russland zu schwächen und einen neuen Weltkrieg zu verhindern. Sondern Europa muss, als Union und als Idee, seinen Platz in einer Weltordnung finden, die nun doch wieder von Gegensätzen des Kalten Kriegs bestimmt wird. Dafür muss die Europäische Union zu nie dagewesener Geschlossenheit finden und darf sich nicht von Ungarn lähmen A lassen, wie es gerade beim Öl-Embargo passiert. uf der anderen Seite hat sich die Gemeinschaft unter Druck stets am besten entwickelt. Und am Ende siegt auf diesem Kontinent die Menschlichkeit. Selbst nach der Shoah ließ sich gemeinsam weiterleben – durch die Erinnerung und im Geist der Versöhnung. An den Zweiten Weltkrieg schloss sich eine lange Phase des Friedens an. Die zerbombten Metropolen lebten wieder auf, selbst Rotterdam und Dresden. Die Beziehungen zwischen den Staaten des Kontinents renkten sich ein, ja sind heute besser, als sie es je waren. Von der angeblichen Erbfeindschaft zwischen Deutschland und Frankreich ist schon lange keine Rede mehr. Diese Jahrzehnte des Friedens und der gemeinsamen Stärke sollten Hoffnung stiften und Kraft geben. Denn in den Geschichtsbüchern wird einst nicht nur der 24. Februar 2022 zu finden sein, sondern auch der Tag, an dem der Krieg in der Ukraine endlich endete – und hoffentlich eine neue europäische Ära begann.