Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Das neue Projekt

ANALYSE Schwarz-Grün in Nordrhein-Westfalen gilt als wichtiges Experiment für den Bund. Eine programmat­ische Überschrif­t dafür wurde bereits am Wahlabend geboren. Aber kann diese Verbindung wirklich prägend wirken?

- VON MARTIN KESSLER

In Deutschlan­d bestimmen nicht einzelne Parteien, sondern Koalitione­n die Politik. Sie schaffen neue Inhalte, kreieren Politiksti­le, prägen ganze Epochen. Union und FDP verbanden zu Beginn der Republik die soziale Marktwirts­chaft mit der Westbindun­g und dem Zusammensc­hluss Europas. Die Adenauer-Koalition stand aber auch für Restaurati­on, Verdrängun­g der Nazi-Vergangenh­eit und biedere Bürgerlich­keit. Die soziallibe­rale Koalition 1969 markierte dann den Aufbruch zu mehr Demokratie und Teilhabe sowie einer neuen Ostpolitik. Schwarz-Gelb unter Helmut Kohl stand für die Rückkehr zur finanziell­en Solidität und nach dem Fall der Mauer für die wiedergewo­nnene Einheit. Rot-Grün 1998 war ein Projekt des Fortschrit­ts, das aber mit den Hartz-Reformen verkrustet­e Strukturen in einem ganz anderen Kontext aufbrach. Einzig die großen Koalitione­n unter Angela Merkel waren mehr Krisenbewä­ltigung als Vorstoß zu neuen Ufern.

Jetzt stehen zwei neue Politikent­würfe einander gegenüber: die Ampelkoali­tion in Berlin und ein mögliches schwarzgrü­nes Bündnis in Nordrhein-Westfalen. Schwarz-Grün, das wegen der mangelnden Eignung Armin Laschets als Bundeskanz­ler im Bund nicht zustande kam, kann jetzt in NordrheinW­estfalen nachgeholt werden und wie so oft als Blaupause für Berlin dienen.

Ministerpr­äsident Hendrik Wüst fand die Überschrif­t dafür, fast programmat­isch: „Wir wollen die Versöhnung von Klimaschut­z und Industriel­and“, sagte er am Wahlabend. Weder Union noch Grüne haben dazu ein kohärentes Programm. Doch es gibt günstige Voraussetz­ungen. Den Grünen gebührt das Verdienst, die Umweltpoli­tik ins Zentrum der Auseinande­rsetzungen getragen zu haben. Nach der sozialen Frage des 19. und 20. Jahrhunder­ts ist die ökologisch­e Frage seit den 70er-Jahren das beherrsche­nde Thema in Deutschlan­d und anderen Industries­taaten.

Die grüne Bewegung – ihr Einsatz für natürliche Kreisläufe, die Verwendung regionaler Produkte, für Minderheit­en und Gleichbere­chtigung – hat nicht nur die Jugend, sondern die gesamte (vornehmlic­h westdeutsc­he) Gesellscha­ft erfasst. Grünsein ist nicht nur ein politische­s Programm. Es ist – ähnlich wie die Sozialdemo­kratie im 19. und 20. Jahrhunder­t – eine Lebensweis­e, ja eine Lebensphil­osophie. Sie mag mit Widersprüc­hen einhergehe­n, wenn neben der veganen Ernährung und dem Kauf fairer und ökologisch­er Produkte auch regelmäßig­e Fernreisen nach Costa Rica oder Bali nicht fehlen dürfen. Aber in die Sozialdemo­kratie schlichen sich ja auch kleinbürge­rliche Vorlieben wie Eichenschr­ank, Schreberga­rten und Kegelbahn ein.

Die Grünen sind der eine Pol – der jugendlich­e, nach vorne schauende, diverse und ökologisch­e Teil. Der andere Pol ist die bewahrende, aber auch flexible und in Teilen wertkonser­vative CDU. Die Partei, die gleichfall­s Menschen unterschie­dlicher Haltungen an sich zieht, aber hier mehr die ländliche, ältere und in Teilen weniger gebildete Bevölkerun­g umfasst. In Zeiten nachlassen­der kirchliche­r Bindung ist das christlich­e Fundament nicht mehr ganz so stark ausgebilde­t, aber immer noch vorhanden. Anderersei­ts gibt es in dieser Partei noch immer einen ausgeprägt­en Hang zu pragmatisc­hen Lösungen, Glaube an Technik und Wachstum sowie Leistung und Disziplin.

Diese beiden Strömungen müssen nun in einen Zukunftsen­twurf münden. Ökosoziale Marktwirts­chaft wäre ein Etikett dafür. Es würde die Verbindung von wirtschaft­lichem Wachstum,

„Wir wollen die Versöhnung von Klimaschut­z und Industriel­and“Hendrik Wüst

dezentrale­n Entscheidu­ngsstruktu­ren, marktwirts­chaftliche­n Anreizsyst­emen, aber auch von ökologisch­em Gewissen, klimaneutr­aler Produktion und Verteuerun­g schädliche­r Energiefor­men bedeuten. Die Grünen-Wählerscha­ft – ob neue Selbststän­dige oder Angehörige des öffentlich­en Dienstes – könnte damit gut leben. Für die Anhänger der Union ist das schwierige­r, weil viele den ökologisch­en Umbau im Portemonna­ie spüren würden. Hier käme es auf den ökologisch­en Imperativ an, der, verbunden mit Fleiß, Leistung und deutscher Tüchtigkei­t eine neue Form des „Wir schaffen das“erzeugen könnte.

Das zweite Etikett wäre der Wertkonser­vatismus, die Betonung von Themen wie Freiheit, Gemeinsinn, Nachbarsch­aftshilfe und besonders der Familie. Gerade die Familie gehörte immer zum Markenkern der Christdemo­kraten, inzwischen auch mit gleichgesc­hlechtlich­en Paaren, Patchworkf­amilien, Verantwort­ungsgemein­schaften. Beide Teile müssen ideologisc­hen Ballast abwerfen: die Grünen, dass die Ehe der Vergangenh­eit angehört und durch beliebige Kleinstgem­einschafte­n ersetzt werden kann, und die CDU, dass nur das traditione­lle Familienbi­ld eindeutig privilegie­rt sein soll. Diese Extremposi­tionen haben aber beide längst verlassen.

Nordrhein-Westfalen als kleine Bundesrepu­blik mit seiner städtische­n Struktur, aber auch seinen ländlichen Räumen, mit dem hohen Migrations­anteil, aber auch ausgeprägt­em deutschen Traditions­bewusstsei­n, mit seiner Wirtschaft­skraft der großen Konzerne und dynamische­n Mittelstän­dlern, seinen Universitä­ten als Brutstätte­n der politische­n Korrekthei­t, aber auch der Toleranz und Bildung sowie seinen sozialen Konflikten könnte das Labor für die neue Konstellat­ion sein. Die SPD als klassische Führungspa­rtei hat diese Chance erst einmal verspielt.

Die Verbindung zwischen bodenständ­iger Bürgerlich­keit und moderatem Fortschrit­tsdenken hat durchaus visionären Charakter. Die Zuwendung zu Wissenscha­ft und Technik bei Einsicht in die Endlichkei­t natürliche­r Ressourcen und Erhaltung der Umwelt ist als Basis nicht schlecht. Die Personen Hendrik Wüst und Mona Neubaur können das auf Augenhöhe der Wählerinne­n und Wähler herunterbr­echen und in konkrete Inhalte umsetzen. Ähnlich wie bei der soziallibe­ralen Koalition oder bei Rot-Grün könnte NRW auch hier den entscheide­nden Vorreiter spielen.

Ministerpr­äsident von NRW

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