Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
Das neue Projekt
ANALYSE Schwarz-Grün in Nordrhein-Westfalen gilt als wichtiges Experiment für den Bund. Eine programmatische Überschrift dafür wurde bereits am Wahlabend geboren. Aber kann diese Verbindung wirklich prägend wirken?
In Deutschland bestimmen nicht einzelne Parteien, sondern Koalitionen die Politik. Sie schaffen neue Inhalte, kreieren Politikstile, prägen ganze Epochen. Union und FDP verbanden zu Beginn der Republik die soziale Marktwirtschaft mit der Westbindung und dem Zusammenschluss Europas. Die Adenauer-Koalition stand aber auch für Restauration, Verdrängung der Nazi-Vergangenheit und biedere Bürgerlichkeit. Die sozialliberale Koalition 1969 markierte dann den Aufbruch zu mehr Demokratie und Teilhabe sowie einer neuen Ostpolitik. Schwarz-Gelb unter Helmut Kohl stand für die Rückkehr zur finanziellen Solidität und nach dem Fall der Mauer für die wiedergewonnene Einheit. Rot-Grün 1998 war ein Projekt des Fortschritts, das aber mit den Hartz-Reformen verkrustete Strukturen in einem ganz anderen Kontext aufbrach. Einzig die großen Koalitionen unter Angela Merkel waren mehr Krisenbewältigung als Vorstoß zu neuen Ufern.
Jetzt stehen zwei neue Politikentwürfe einander gegenüber: die Ampelkoalition in Berlin und ein mögliches schwarzgrünes Bündnis in Nordrhein-Westfalen. Schwarz-Grün, das wegen der mangelnden Eignung Armin Laschets als Bundeskanzler im Bund nicht zustande kam, kann jetzt in NordrheinWestfalen nachgeholt werden und wie so oft als Blaupause für Berlin dienen.
Ministerpräsident Hendrik Wüst fand die Überschrift dafür, fast programmatisch: „Wir wollen die Versöhnung von Klimaschutz und Industrieland“, sagte er am Wahlabend. Weder Union noch Grüne haben dazu ein kohärentes Programm. Doch es gibt günstige Voraussetzungen. Den Grünen gebührt das Verdienst, die Umweltpolitik ins Zentrum der Auseinandersetzungen getragen zu haben. Nach der sozialen Frage des 19. und 20. Jahrhunderts ist die ökologische Frage seit den 70er-Jahren das beherrschende Thema in Deutschland und anderen Industriestaaten.
Die grüne Bewegung – ihr Einsatz für natürliche Kreisläufe, die Verwendung regionaler Produkte, für Minderheiten und Gleichberechtigung – hat nicht nur die Jugend, sondern die gesamte (vornehmlich westdeutsche) Gesellschaft erfasst. Grünsein ist nicht nur ein politisches Programm. Es ist – ähnlich wie die Sozialdemokratie im 19. und 20. Jahrhundert – eine Lebensweise, ja eine Lebensphilosophie. Sie mag mit Widersprüchen einhergehen, wenn neben der veganen Ernährung und dem Kauf fairer und ökologischer Produkte auch regelmäßige Fernreisen nach Costa Rica oder Bali nicht fehlen dürfen. Aber in die Sozialdemokratie schlichen sich ja auch kleinbürgerliche Vorlieben wie Eichenschrank, Schrebergarten und Kegelbahn ein.
Die Grünen sind der eine Pol – der jugendliche, nach vorne schauende, diverse und ökologische Teil. Der andere Pol ist die bewahrende, aber auch flexible und in Teilen wertkonservative CDU. Die Partei, die gleichfalls Menschen unterschiedlicher Haltungen an sich zieht, aber hier mehr die ländliche, ältere und in Teilen weniger gebildete Bevölkerung umfasst. In Zeiten nachlassender kirchlicher Bindung ist das christliche Fundament nicht mehr ganz so stark ausgebildet, aber immer noch vorhanden. Andererseits gibt es in dieser Partei noch immer einen ausgeprägten Hang zu pragmatischen Lösungen, Glaube an Technik und Wachstum sowie Leistung und Disziplin.
Diese beiden Strömungen müssen nun in einen Zukunftsentwurf münden. Ökosoziale Marktwirtschaft wäre ein Etikett dafür. Es würde die Verbindung von wirtschaftlichem Wachstum,
„Wir wollen die Versöhnung von Klimaschutz und Industrieland“Hendrik Wüst
dezentralen Entscheidungsstrukturen, marktwirtschaftlichen Anreizsystemen, aber auch von ökologischem Gewissen, klimaneutraler Produktion und Verteuerung schädlicher Energieformen bedeuten. Die Grünen-Wählerschaft – ob neue Selbstständige oder Angehörige des öffentlichen Dienstes – könnte damit gut leben. Für die Anhänger der Union ist das schwieriger, weil viele den ökologischen Umbau im Portemonnaie spüren würden. Hier käme es auf den ökologischen Imperativ an, der, verbunden mit Fleiß, Leistung und deutscher Tüchtigkeit eine neue Form des „Wir schaffen das“erzeugen könnte.
Das zweite Etikett wäre der Wertkonservatismus, die Betonung von Themen wie Freiheit, Gemeinsinn, Nachbarschaftshilfe und besonders der Familie. Gerade die Familie gehörte immer zum Markenkern der Christdemokraten, inzwischen auch mit gleichgeschlechtlichen Paaren, Patchworkfamilien, Verantwortungsgemeinschaften. Beide Teile müssen ideologischen Ballast abwerfen: die Grünen, dass die Ehe der Vergangenheit angehört und durch beliebige Kleinstgemeinschaften ersetzt werden kann, und die CDU, dass nur das traditionelle Familienbild eindeutig privilegiert sein soll. Diese Extrempositionen haben aber beide längst verlassen.
Nordrhein-Westfalen als kleine Bundesrepublik mit seiner städtischen Struktur, aber auch seinen ländlichen Räumen, mit dem hohen Migrationsanteil, aber auch ausgeprägtem deutschen Traditionsbewusstsein, mit seiner Wirtschaftskraft der großen Konzerne und dynamischen Mittelständlern, seinen Universitäten als Brutstätten der politischen Korrektheit, aber auch der Toleranz und Bildung sowie seinen sozialen Konflikten könnte das Labor für die neue Konstellation sein. Die SPD als klassische Führungspartei hat diese Chance erst einmal verspielt.
Die Verbindung zwischen bodenständiger Bürgerlichkeit und moderatem Fortschrittsdenken hat durchaus visionären Charakter. Die Zuwendung zu Wissenschaft und Technik bei Einsicht in die Endlichkeit natürlicher Ressourcen und Erhaltung der Umwelt ist als Basis nicht schlecht. Die Personen Hendrik Wüst und Mona Neubaur können das auf Augenhöhe der Wählerinnen und Wähler herunterbrechen und in konkrete Inhalte umsetzen. Ähnlich wie bei der sozialliberalen Koalition oder bei Rot-Grün könnte NRW auch hier den entscheidenden Vorreiter spielen.
Ministerpräsident von NRW