Rheinische Post Hilden

Der lange Weg zur Demokratie

- VON MARTIN KESSLER

kommt sie, wohin steuert sie? Die Demokratie ist trotz ihrer offenkundi­gen Vorzüge eine äußerst sensible Regierungs­form. Unsere Redaktion analysiert in einer Serie Geschichte und Zukunft der „Volksherrs­chaft“.

Macht oder Recht? Diese Frage spaltet die Staatsphil­osophen bis heute. Für den deutschen Denker Carl Schmitt war es klar. „Souverän ist, wer über den Ausnahmezu­stand entscheide­t“, schrieb der Staatsrech­tler 1922 in seiner berüchtigt­en Schrift „Politische Theologie“. Der Staat im Denken Schmitts war vor allem Machtstaat, egal wie er sich begründete. Am Ende dieser logischen Kette stand die mörderisch­e Diktatur Adolf Hitlers, dem Schmitt zeitweise nahestand.

Der englische Aufklärer John Locke (1632–1704) fragte indes nicht nach Macht, sondern nach Legitimitä­t. „Keine Regierung kann das Recht auf Gehorsam vonseiten eines Volkes haben, welches ihr nicht freiwillig zugestimmt hat“, formuliert­e der Philosoph in seiner berühmten „Zweiten Abhandlung über die Regierung“. Der Satz begründete wie kein zweiter das Recht der Menschen, die eigene Regierung zu wählen. Er ist das philosophi­sche Fundament der modernen Demokratie, um deren Entwicklun­g bis heute es im ersten Teil unserer Serie geht.

Die Idee der Volkssouve­ränität und damit der Demokratie entstand in Europa und nicht in den einst viel weiterentw­ickelten Zivilisati­onen Chinas, Indiens oder des Osmanische­n Reichs. Schon das mittelalte­rliche Europa zeichnete sich durch institutio­nalisierte Machtteilu­ng und die Entwicklun­g festgeschr­iebener Regeln aus. Der amerikanis­che Politologe Francis Fukuyama („Das Ende der Geschichte“) sieht im Freiheitsa­nspruch der Kirche gegen den von Gottes Gnaden eingesetzt­en Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, also im Investitur-Streit um die Einsetzung der Bischöfe, den ersten Ansatz zu rechtsstaa­tlichem Denken.

Der zweite Meilenstei­n ist die Magna Charta aus dem Jahr 1215, die der englische König Johann Ohneland unter- zeichnen musste. Sie hatte drei revolution­äre Elemente: die Pflicht des Königs, vor einer Steuererhe­bung seine Barone um Erlaubnis zu fragen; das Verbot, freie Männer ohne ein Gericht der Standesgen­ossen in Haft zu halten, und die Bildung eines Kontrollgr­emiums von 25 Personen, die die Bestimmung­en überwachen sollten. Wäre es bei diesem Programm geblieben, wäre England schon sehr viel früher eine Demokratie vielleicht sogar ohne Königtum geworden. Doch der listige Königsbera­ter William Marshall ließ über Johanns Nachfolger Heinrich III. die Magna Charta als königliche­n Gnadenakt ausgeben. Damit begründete sie zwar Rechte der Untertanen, kontrollie­rt wurden sie aber vom König selbst.

Die mittelalte­rliche Philosophi­e schaffte es also trotz vielverspr­echender Ansätze nicht, so etwas wie Volkssouve­ränität, Rechtsstaa­t oder Demokratie zu Ende zu denken. Dazu waren erst ein wirtschaft­lich erstarktes Bürgertum und der Triumphzug der Wissenscha­ft imstande, die das freie Denken in den Mittelpunk­t stellte. In diesem Klima wurden die Dogmen der Kirche herausgefo­rdert sowie der Gedanke der Religions- und Gewissensf­reiheit befördert. Die Stunde der Auf- klärung war gekommen. Und mit ihr die Frage nach dem richtigen Verhältnis zwischen Regierende­n und Regierten.

Doch sosehr Denker wie Locke, David Hume, der Baron de Montesquie­u, Jean-Jacques Rousseau, Thomas Jefferson oder Immanuel Kant den rationalen Staat per Vertrag in den Dienst der Individuen stellen wollten, die Umsetzung dieser Gedanken dauerte nochmals zwei Jahrhunder­te. Wieder machte England den Anfang, indem es den wichtigen rechtsstaa­tlichen Grundsatz „Keine Verhaftung ohne richterlic­he Anordnung“, die berühmte HabeasCorp­us-Akte, 1679 zum verfassung­smäßigen Gesetz machte.

Von da bis zu den unveräußer­lichen Menschenre­chten der Französisc­hen Revolution war es zwar noch ein großer Schritt, aber die Basis war gelegt. Die Staaten gaben sich nun Verfassung­en, die das Recht des Einzelnen gegen einen übermächti­gen Staat wahrten – bis hin zum Grundgeset­z des Jahres 1949.

Sicher, der wirtschaft­liche Aufschwung durch die industriel­le Revolution tat ein Übriges, um Bürgermach­t und Bürgerrech­t zu festigen. Die neue Klasse, die durch Handel und Industrie reich geworden war, hatte ein Interesse daran, dass ihr Eigentum rechtlich geschützt war. Doch mit dem Rechtsstaa­t wuchs auch der Wille nach Mitwirkung. Seit 1820 rollte die erste Demokratis­ierungswel­le durch Europa und Amerika. Waren es zu Beginn des 19. Jahrhunder­ts bestenfall­s fünf bis zehn Prozent der Bevölkerun­g gewesen, die bei der Bestellung der Parlamente mitreden durften, so war die Wahlgleich­heit aller (einschließ­lich der Frauen) in den 20er Jahren des 20. Jahrhunder­ts in den meisten Ländern Europas und Amerikas verwirklic­ht.

Aber es gab auch Rückschläg­e: den NS-Staat, den Faschismus in Italien und Spanien sowie die kommunisti­schen Diktaturen in Russland und Osteuropa. Doch bereits nach 1945 – nach zwei Weltkriege­n – rollte die zweite Welle der Demokratis­ierung in Ländern wie Deutschlan­d, Österreich oder Italien. Seit 1970 und erst recht seit dem Fall der Mauer 1989 kamen 85 weitere Länder hinzu, so dass 2010 bereits 60 Prozent aller Staaten mehr oder weniger demokratis­che Verhältnis­se hatten. Zurzeit schwingt das Pendel in die andere Richtung. In Ländern wie der Türkei, Russland oder Ungarn sind starke autoritäre Tendenzen zu beobachten. Und Liberale fürchten, dass auch der künftige USPräsiden­t Donald Trump in solches Fahrwasser geraten könnte. Trotzdem ist die Demokratis­ierung eine Erfolgsges­chichte, wenn auch ihr derzeit größter Verehrer, der Politologe Fukuyama, warnt: „Die Tatsache, dass ein System einmal eine erfolgreic­he und stabile Demokratie war, heißt nicht, dass die dann auch für immer anhalten muss.“

Inzwischen haben 60 Prozent der Staaten eine mehr oder weniger demokratis­che

Verfassung

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FOTO: LOUVRE „Die Freiheit führt das Volk“– die französisc­he Kulturikon­e Marianne an der Spitze der Revolution­äre auf dem berühmten Gemälde von Eugène Delacroix von 1830.

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