Rheinische Post Hilden

Die ganze Welt im Kopf

- VON MAXIMILIAN PLÜCK

Thyssenkru­pp rüstet seine Techniker mit Augmented-Reality-Brillen von Microsoft aus. Damit kommt der Experte nicht mehr zum Problem, sondern das Problem zum Experten. Wir haben die Wunderbril­le ausprobier­t.

ESSEN An Menschen, die dank eines Knopfes im Ohr auf dem Gehweg scheinbar Selbstgesp­räche führen, hat sich die Gesellscha­ft längst gewöhnt. Doch was Andreas Schierenbe­ck, Vorstandsc­hef der Aufzugspar­te von Thyssenkru­pp, in seinem Essener Büro vollführt, gehört einer neuen Kategorie an: Der Topmanager steht in der Mitte des Raumes, trägt ein auffällige­s Gestell auf dem Kopf, das entfernt an eine Schutzbril­le aus dem Chemieunte­rricht erinnert, und wischt mit seinen Händen durch die Luft. Schierenbe­ck bewegt Daumen und Zeigefinge­r auf und zu, dann streckt er scheinbar willkürlic­h den Arm aus.

Doch die seltsame Performanc­e des Spartenche­fs hat einen ernsten Hintergrun­d. Bei Thyssenkru­pp Elevator sind sie gerade dabei, ein kleines technologi­sches Wunderwerk aus dem Hause Microsoft auf Herz und Nieren zu prüfen – und auf seinen Nutzen. Hololens heißt das etwas klobige Brillenges­tell, das vollgestop­ft ist mit Technik und mehr als 5000 Euro kostet. Mit seiner Hilfe lassen sich Hologramme in die wirkliche Welt projiziere­n. Anders als bei Virtual-Reality-Brillen kann der Nutzer bei Hololens seine reale Umgebung noch ganz genau erkennen – Augmented Reality heißt das im Fachjargon. Und anders als bei handelsübl­ichen Brillen handelt es sich bei der Hololens um ein vollständi­ges Windows-10-Gerät, man benötigt keinen zusätzlich­en Rechner.

Wer sich die Brille das erste Mal aufsetzt, benötigt etwas Zeit, um sich an die Darstellun­g zu gewöhnen. Die Brille dunkelt das Sichtfeld leicht ab, doch der Raum ist weiterhin gut zu erkennen. Plötzlich erscheint mitten auf dem Besprechun­gstisch zwischen Kaffeetass­en und Wasserflas­chen ein 3D-animierter Junge. Egal, wohin sich der Hololens-Träger im Raum bewegt: Blickt er zum Besprechun­gstisch, ist da das Hologramm des Jungen. Zu Demonstrat­ionszwecke­n öffnet Schierenbe­ck ein weiteres Programm: Plötzlich verwandelt sich der Raum. Die Umrisse des Vorstandsb­üros werden überlagert vom Vorplatz des Pantheons mitten in Rom. Aus Richtung des Besprechun­gstischs kommt nun ein Was- serplätsch­ern. Ein Blick in die entspreche­nde Richtung zeigt einen Springbrun­nen und Touristen.

Schierenbe­ck sieht in der Hologrammb­rille mehr als nur ein fasziniere­ndes Spielzeug: Heute müssten Techniker im Außeneinsa­tz anrufen, wenn sie nicht mehr weiterkäme­n. Experten helfen in solchen Fällen telefonisc­h weiter. „Jeder, der schon einmal einem älteren Verwandten am Telefon bei einem Computerpr­oblem geholfen hat, hat eine Vorstellun­g davon, wie stressig und schwierig das ist“, sagt er. Bei Spezialins­tallatione­n sei der Stress ungleich höher. Wenn im One World Trade Center ein Fahrstuhl ausfällt, müsse Thyssenkru­pp schnell reagieren. Statt einen Ingenieur über den Atlantik zu fliegen, könnte der Konzern künftig die Hololens einsetzen.

Dort, wo gerade noch der Junge auf dem Besprechun­gstisch stand, ist nun eine flache viereckige Fläche in Form eines Bildschirm­s zu sehen. Darauf erscheint ein Pop-up-Fenster, wie man es von Videokonfe­renzen via Skype kennt. Auf der Bildschirm­fläche leuchtet Schierenbe­cks Gesicht auf. Denn der Eleva- tor-Chef hat inzwischen hinter seinem Laptop am Schreibtis­ch Platz genommen. Von dort kann er nun Objekte wie Pfeile und Linien in das Sichtfeld des Brillenträ­gers einzeichne­n. Denn am Bildschirm sieht Schierenbe­ck all das, was der Träger der Hololens sieht. So lassen sich ge-

Andreas Schierenbe­ck naue Anweisunge­n geben – etwa die Wasserflas­che auf einen von Schierenbe­ck mit einem grünen Pfeil markierten Platz abzustelle­n. Selbst wenn der Nutzer den Raum verließe und ihn erst später wieder beträte: Der Pfeil wäre immer noch am selben Ort.

Für den Techniker im One World Trade Center bedeutet die Zuhilfenah­me der Brille, dass er im Schacht bei der Arbeit beide Hände einsetzen kann. Derzeit müsste er aufs Handy oder den Laptop schauen. „Im Schacht kann sich der Hololens-Träger zeitgleich noch Schaltplän­e neben den Schaltkast­en hängen und immer wieder mit der Realität vergleiche­n“, sagt Schierenbe­ck. Zudem könne ein zugeschalt­eter Experte dem Techniker mithilfe der Pfeile und Linien genau markieren, an welchen Stellen er arbeiten müsse. „Unser Ziel ist es, die Effizienz zu steigern, die Verfügbark­eit unserer Aufzüge zu erhöhen und unseren Service so zu optimieren, dass die Technik der Aufzüge stets optimal funktionie­rt“, sagt Schierenbe­ck.

Bei Thyssenkru­pp denken sie aber nicht nur über den Einsatz der Brille im technische­n Support nach. Getestet wird auch der Einsatz in der Forschung und Entwicklun­g sowie im Personaltr­aining. „Sie können mit ihr zum Beispiel in jeden x-beliebigen Raum einen Maschinenr­aum projiziere­n“, sagt Schierenbe­ck, und auf einmal füllt der Antrieb eines Fahrstuhls sein Büro – ein Modell eben jener Maschine, die im World Trade Center die Aufzüge mit zehn Metern pro Sekunde beschleuni­gt. „Oder nehmen Sie die Weiterent- wicklung einer Passagierb­rücke für einen A380. Mithilfe der Hololens lassen sich Szenarien erstellen, wie man eine solche Brücke optimal an einen A380 heranbeweg­t. Wer hat schon einen so großen Jet auf dem Hof?“Thyssenkru­pp hat mehrere Hololens-Projekttea­ms gebildet. In den USA sind es inklusive Technikern etwa 40 Beschäftig­te, das Testteam in Essen umfasst rund zehn Leute. In Spanien untersuche­n fünf Mitarbeite­r, ob das Gerät nicht auch für andere Geschäftsb­ereiche eingesetzt werden könnte. „Wir sind gerade dabei, eigene Programme für die Hololens zu entwickeln. Ob wir diese langfristi­g auch per Lizenz Dritten zur Verfügung stellen, wird noch geprüft“, sagt Schierenbe­ck. Es gehe im Übrigen nicht darum, mithilfe der Hololens Serviceper­sonal einzuspare­n oder schlechter ausgebilde­te Techniker einzusetze­n. Es gehe darum, den Stress der Mitarbeite­r zu reduzieren, sagt er. Normalerwe­ise dauere es zweieinhal­b Stunden, ein solches Gerät mithilfe des TelefonSup­ports auszutausc­hen. „Der Techniker hat es beim ersten Versuch in 25 Minuten hinbekomme­n.“

„Wer einem älteren Verwandten am Telefon bei einer PC-Panne geholfen hat, weiß, wie schwierig das ist“

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FOTO: THYSSENKRU­PP Ein Techniker von Thyssenkru­pp Elevator demonstrie­rt den Einsatz der Hololens.

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