Montecristo
Dillier, der Mann von der Banknotendruckerei, fragte: „Stimmen meine Informationen, dass sich das Material in den Händen des besagten Journalisten befindet?“
„Befand, soviel ich weiß. Und dieser sei derzeit außer Landes und anderweitig beschäftigt. Die Spezialisten meinen, er würde es nicht verwenden, sollte er noch über Kopien verfügen.“
Zum ersten Mal ließ sich Jean Seibler vernehmen: „Etwas viel Konjunktiv für meinen Geschmack.“
Und Konrad Stimmler fügte hinzu: „Die Sache ist und bleibt eine Zeitbombe.“
Dillier nickte. „Ich hoffe, Ihre Spezialisten können sie entschärfen.“
„Davon gehe ich aus“, stellte Just fest, als Herr Schwarz mit einem neuen Gang den kleinen Saal betrat.
Er räumte ab und hob die Cloches. „Gekühlter bretonischer Hummer in Gelée mit frischen Mandeln“, verkündete er.
Die Runde wartete, bis sie wieder ungestört war. „Ich soll euch von Hanspeter grüßen“, sagte Stimmler, „er wäre gerne dabei gewesen, aber er ist drüben. Könnt euch denken, war-um.“Die drei nickten bedeutungsvoll. Wieder die bedächtige Stimme von Seibler: „Solange sich die Contini-Position nicht erholt, stehen wir alle am Abgrund. Und dass sie sich erholt bei der Lage in Russland, ist mehr als unwahrscheinlich, oder bist du anderer Meinung, William?“
Just gab ihm recht: „Das Geld ist futsch. Aber darum geht es nicht, wie wir alle wissen, meine Herren. Wir haben ja dafür gesorgt“– er fasste Konrad Stimmler ins Auge – „sorgen dürfen, dass der Verlust nicht in den Büchern auftaucht. Das Thema wäre abgehakt, wenn besagter Journalist . . . Ich fürchte, da ist etwas viel Pech zusammengekommen.“
„Und etwas wenig Risk Management“, gab Seibler zurück. „Ist dein Chief Risk noch immer in Amt und Würden?“
„Ich kann ihn schlecht rausschmeißen. Sonst kann ich gleich an die Öffentlichkeit gehen.“
Der CEO der SIB hatte jetzt alles Gemütliche verloren. „Das hättest du von Anfang an tun sollen, darüber sind wir uns einig, nicht wahr, Konrad?“
„Natürlich“, räumte der Präsident der Schweizerischen Bankenaufsicht ein. „Jedenfalls, als ich es erfuhr, war die Sache gelaufen. Was hätte ich tun sollen?“
Alle wussten, was er hätte tun sollen. Und alle wussten, dass die GCBS es nicht überlebt hätte. Es hatte keinen Sinn, das Thema wieder auf den Tisch zu bringen.
William Just brachte es auf den Punkt: „Wir haben es mit einer Situation zu tun, in der der Plan B identisch ist mit dem Worst-CaseSzenario. Deswegen müssen wir mit allen Mitteln an Plan A festhalten.“
„Soweit dies in unserer Macht steht“, schränkte Stimmler ein.
„Es steht in unserer Macht“, wandte Just ein. „Wir bekämpfen die Krise mit einer Doppelstrategie wie eine Epidemie: Viren vernichten und Immunkräfte stärken. Wir haben alles im Griff. Deswegen habe ich Sie zu diesem – beinahe hätte ich gesagt, Rapport – gebeten: um mich Ihrer Unterstützung zu versichern. Sie alle wissen, was auf dem Spiel steht. Ich verpflichte mich, weiterhin alle Maßnahmen zu ergreifen, die nötig sind, um zu verhindern, dass die Sache aus dem Ruder läuft. Ich werde Sie nicht mit den Details belasten, aber ich will, dass Sie sie mittragen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.“
Nach diesem etwas pathetischen Votum drückte er auf den kleinen Sender in seiner Außentasche, und Herr Schwarz schob den nächsten Gang herein und räumte die Teller ab.
Jonas hielt die Schmalseite des senfgelben Leintuchs an beiden Ecken straff und spannte es über das Fußende der Matratze. Frau Gerwiler tat das Gleiche am Kopfende.
„Normalerweise ist das Bett gemacht, wenn die Gäste kommen, aber Sie haben mir ja keine Zeit gelassen, Herr Hofer.“
Frau Gerwiler war eine blonde stämmige Bäuerin von etwa vierzig mit schwieligen Händen und einem herzlichen Lachen. Sie war die Vermieterin der Ferienwohnung Bütsch in Feldwil im Zürcher Oberland, eine knappe Autostunde von Zürich. Die Wohnung bestand aus zwei Zimmern in einem alten geschindelten Häuschen, einen knappen Kilometer entfernt vom Bauernhaus, in dem Frau Gerwiler mit ihrem Mann und drei halbwüchsigen Kindern wohnte.
Jonas hatte die Wohnung im Internet gefunden, sie erfüllte alle seine Kriterien: WLAN, abgelegen, Garage. Das Häuschen besaß zwei Stockwerke. Jonas hatte sich für das Erdgeschoss entschieden. Die erste Etage war unvermietet.
„Das Haus wurde neunzehnhundertzwanzig gebaut. Mein Mann und ich haben es vor zwei Jahren eigenhändig renoviert.“
„Alle Achtung“, murmelte Jonas etwas gezwungen. Man sah der Wohnung das Eigenhändige an. Das Wohnzimmer war mit Fertigtäfelung verschalt, die Ungenauigkeiten an Ecken, Tür- und Fensterrahmen mit Leisten abgedeckt. Die Böden waren mit Parkettimitat aus Kunststoff ausgelegt.
An den Wänden hingen, alle ein wenig zu hoch, gerahmte Landschaftsfotos. Die vorherrschenden Farben der Heimtextilien – Sofakissen, Tischdecken, Badetücher – waren Orange, Ocker und Gelb.
„Was schreiben Sie denn so“, fragte Frau Gerwiler, während sie die frischgeschüttelte Federdecke über das Bett breitete. „Kann man mal etwas lesen?“
„Mehr so fachliche Sachen“, antwortete Jonas. „Kommunikation, Publizistik, so in der Richtung. Ich fürchte, nicht sehr spannend.“
„Nichts Bekanntes? Sie kommen mir nämlich irgendwie bekannt vor.“
Jonas hatte gehofft, dass Highlife in Bauernfamilien keine oft gesehene Sendung wäre, und sich auf seinen Decknamen Hans Hofer und seinen Dreitagebart verlassen. „Das höre ich oft“, antwortete er, „ich habe ein Allerweltsgesicht.“
Frau Gerwiler gab sich damit zufrieden. Sie verabschiedete sich und wünschte Jonas viele gute Ideen. „Ungestört sind Sie hier ja“, fügte sie noch hinzu.
Er bezahlte ihr die fünfhundertdreißig Franken für die Woche plus die Kaution von zweihundert Franken, begleitete Frau Gerwiler zum Gartentor und sah ihrem alten Mitsubishi nach, der auf dem schmalen Sträßchen rasch kleiner wurde.
Vor dem Haus gab es eine kleine Veranda, an deren Brüstung aus alten Wagenrädern die leeren Halterungen der Geranienkästen hingen.