Rheinische Post Hilden

Behördenve­rsagen mit tödlichen Folgen

- VON MARTIN KESSLER

In einer Demokratie ist die Regierung zur Rechenscha­ft gegenüber ihren Bürgern verpflicht­et. So hat die Öffentlich­keit ein Recht darauf zu erfahren, wer in einer Gefährdung­slage seinen Aufgaben nachgekomm­en ist und wer nicht und deshalb mit Konsequenz­en zu rechnen hat. Der richtige Ort, Rechenscha­ft abzulegen, ist das Parlament in öffentlich­er Sitzung.

Das ist in NRW geschehen. Gestern legten die Sicherheit­sbehörden vor dem Innenaussc­huss des Landtags Rechenscha­ft über ihre Erkenntnis­se zum mutmaßlich­en Massenmörd­er Anis Amri ab. Leider ist auch nach dem Bericht und der anschließe­nden Debatte nicht hinreichen­d klar, wer in diesem Fall richtig gehandelt hat und wer seine Aufgaben nicht erfüllte. Und das, obwohl eine Fülle detaillier­ter Erkenntnis­se zusammenge­tragen wurde, die die Öffentlich­keit in Erstaunen versetzt – und sie fassungslo­s macht, dass daraus keine personelle­n Konsequenz­en gezogen werden.

Deutlich geworden ist nur eins: Die Behörden haben zu wenig getan, um den Anschlag zu verhindern. Obwohl Amri siebenmal Gegenstand der Gespräche beim Gemeinsame­n Terrorabwe­hrzentrum (GTAZ) war, obwohl bekannt war, dass er mehrere Identitäte­n hatte und sich offenbar Sozialleis­tungen erschliche­n hatte, obwohl er nach Zeugenauss­agen Anschläge mit Hilfe von Kriegswaff­en begehen wollte und im Internet nach Sprengstof­fen recherchie­rte, obwohl er „im Auftrag von Allah töten“und sich mit Mitglieder­n des Islamische­n Staats treffen wollte, hat ihn die deutsche Justiz aus den Augen verloren. Das nennt man Behördenve­rsagen, für das die Landeskrim­inalämter von NRW und Berlin sowie die Beteiligte­n des GTAZ verantwort­lich sind.

Unverständ­lich ist auch, dass der Generalsta­atsanwalt in Berlin die Telefonübe­rwachung nach einem halben Jahr abbrach und sie auch nicht mehr aufnahm, als das LKA von NRW drei Monate vor dem Anschlag von Tunesien und Marokko informiert wurde, dass Amri IS-Anhänger sei, Kontakt zu IS-Terroriste­n hatte, sich in Berlin aufhalte und in Deutschlan­d ein „Projekt ausführen wolle“. Braucht man noch mehr Hinweise, um Amris Telefon zu überwachen?

Sicher, die Hürden des Gesetzes zur Überwachun­g und Inhaftieru­ng von Gefährdern sind hoch. Allein aufgrund seiner Gesinnung wird in Deutschlan­d niemand eingesperr­t. Aber wenn das Gesamtbild ergibt, dass es sich bei einer Person um einen gefährlich­en Islamisten handelt, ist es auch nach jetzigem Recht möglich, „zur Abwehr einer besonderen Gefahr“eine Person zu verhaften und abzuschieb­en. Das alles entbindet die Politik nicht, im Straf- und Ausländerr­echt erheblich nachzuschä­rfen. BERICHT

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