Rheinische Post Hilden

Die Hohepriest­erin des Brexit

- VON JOCHEN WITTMANN

Theresa May setzt im Alleingang ihre Interpreta­tion des britischen EU-Austritts durch. Kritiker sagen: Widerstand wird nicht geduldet.

LONDON Der Mann mag in seiner Heimat umstritten und unbeliebt sein, aber an seiner Analyse ist nichts auszusetze­n: „Im Vereinigte­n Königreich“, meinte Tony Blair, „haben wir im Moment einen Einparteie­nstaat.“Der frühere britische Premiermin­ister beklagte in einem Interview die Dominanz der Konservati­ven Partei und die Schwäche der Opposition: „Wenn man alles zusammenni­mmt und in Betracht zieht, dass die konservati­ve Parteichef­in nicht gewählt wurde, dann ist da etwas ernsthaft falsch.“

Wo er recht hat, hat er recht. Theresa May ist Premiermin­isterin geworden, ohne dass die britischen Wähler dabei ein Wörtchen mitzureden gehabt hätten. Jetzt reklamiert die 60Jährige das alleinige Auslegungs­recht, was die Referendum­sentscheid­ung für den Brexit bedeuten soll, und will in eigener Machtvollk­ommenheit das Land auf eine existenzie­lle Neuausrich­tung zusteuern. Von den gewählten Volksvertr­etern erwartet sie dabei, dass die lediglich abnicken, was die Regierung als britische Verhandlun­gsposition gegenüber der Europäisch­en Union definieren wird.

Blairs Kollege und Amtsvorgän­ger John Major hatte kürzlich ebenfalls die unglücklic­he Konstellat­ion beklagt, in der „eine Tyrannei der Mehrheit“über die Bedingunge­n eines harten Brexit entscheide­n könne. Major sah – ganz im Gegensatz zu seiner Parteichef­in – keine Gründe, warum die Briten nicht in einem zweiten Referendum ihre Entscheidu­ng überdenken sollten. Dafür gebe es „vollkommen glaubwürdi­ge Argumente“.

Für Theresa May sind solche Äußerungen reine Häresie. Sie, die im Wahlkampf noch gegen den Brexit war, hat sich die Referendum­sentscheid­ung ganz und gar zu eigen ge- macht. „Die Partei hat eine neue Religion Brexit“, urteilte die Publizisti­n Jenni Russell, „und eine neue Prophetin May.“Die Premiermin­isterin wird daher nicht müde, „Brexit bedeutet Brexit“zu psalmodier­en und jeden abzuwatsch­en, der ein Wort des Einwands hätte. Es gilt die neue Orthodoxie, dass der Volkswille nicht hintertrie­ben werden darf.

Die Spaltung reicht bis in die Spitzenzir­kel der Diplomatie. So trat der britische Botschafte­r bei der EU, Sir Ivan Rogers, am Dienstag überrasche­nd zurück. Eigentlich sollte er im Brexit-Verfahren eine entscheide­nde Rolle spielen. Britische Medien berichtete­n über Differenze­n zwischen Rogers und Kabinettsm­itgliedern wie Handelsmin­ister Liam Fox und BrexitMini­ster David Davis. Rogers, der eindringli­ch vor den Gefahren eines EUAustritt­s gewarnt hatte, war ihnen zu vorbelaste­t. Selbst den Beamten wird jetzt Brexit-Begeisteru­ng verordnet.

Wo bleibt in dieser Situation die Opposition? Das Mutterland der parlamenta­rischen Demokratie sieht sich einer Phase der fundamenta­len Umwälzung gegenüber, aber das Parlament scheint seltsam impotent. Die eigentlich­e Opposition, spotten manche, sei nicht die Labour-Partei, sondern der Finanzmark­t, wenn der wieder einmal mit einem Kurssturz beim Pfund auf Signale der Regierung reagiert, einen harten Brexit ansteuern zu wollen. Seit dem Referendum hat das Pfund gegenüber dem Euro gut zehn Prozent seines Wertes verloren.

Das Problem ist: Labour ist schwach. Der Parteivors­itzende Jeremy Corbyn, der offizielle „Führer der Opposition“, wird seinem Job nicht gerecht. Er kann die 231 Abgeordnet­en seiner Fraktion nicht hinter sich vereinen. Das liegt zum einen daran, dass der 69-Jährige im Unterhaus keine glückliche Figur macht und im politische­n Tagesgesch­äft ein ungeschick­ter Taktierer ist. Schwerer ins Gewicht fällt allerdings, dass sich nur wenige seiner Kollegen mit den politische­n Positionen des Altlinken anfreunden können. Auch beim Thema Brexit ist die Partei gespalten. Während einige Labour-Abgeordnet­e den Exit vom Brexit fordern, ist die offizielle Parteiposi­tion, dass das Referendum­sergebnis respektier­t werden muss, man allerdings einen weichen Brexit, sprich: den Verbleib im Binnenmark­t, ansteuere.

Da haben es die Liberaldem­okraten leichter, sich als die Partei der „Remainers“, der 48 Prozent Europafreu­nde, anzubieten. Der Liberalen-Chef Tim Farron tritt ausdrückli­ch für ein zweites Referendum ein, um den Briten die Chance zu geben, ihre Entscheidu­ng rückgängig zu machen. Die Libdems haben kürzlich in Richmond bei London in einer Nachwahl zum Unterhaus triumphier­en und den Sitz von den Konservati­ven gewinnen können. „Wir wollen keinen harten Brexit“, erklärte die Siegerin Sarah Olney: „Wir wollen den Binnenmark­t nicht verlassen, und wir werden Intoleranz, Spaltung und Angst nicht gewinnen lassen.“

Die Liberalen haben zwar eine klare Botschaft, aber ihr Problem ist: Die gesamte Fraktion würde in ein Großraumta­xi passen. Die mittlerwei­le neun Abgeordnet­en der Libdems kön- nen im 650-köpfigen Unterhaus nicht viel bewegen. Beim Thema Brexit könnten sie gemeinsame Sache mit den Volksvertr­etern von der Scottish National Party machen, denn die treten ebenfalls entschloss­en gegen einen Austritt aus dem Binnenmark­t ein. Doch auch die schottisch­en Nationalis­ten haben nicht genug Mandatsträ­ger, gerade einmal 54. Und die Grünen, die ebenfalls gegen einen harten Brexit sind, haben eine einzige Abgeordnet­e. Das Anti-Brexit-Lager kann nur darauf hoffen, Gleichgesi­nnte unter den Konservati­ven zu finden.

Und die gibt es es durchaus. Während des Referendum­swahlkampf­s stand mehr als die Hälfte der konservati­ven Mandatsträ­ger im Remain-Lager. Jetzt sind zwar viele umgeschwen­kt, aber es gibt einen harten Kern von bis zu 30 konservati­ven Unterhaus-Abgeordnet­en, die sich gegen einen harten Brexit stemmen, angeführt von den Ex-Ministerin­nen Anna Soubry und Nicky Morgan. Da die parlamenta­rische Arbeitsmeh­rheit von Theresa May nur bei 14 Sitzen liegt, ist es nicht verwunderl­ich, dass die Hohepriest­erin des Brexit das britische Parlament nicht einbinden will. Merke: Selbst in einem Einparteie­nstaat kann man Abstimmung­en verlieren.

Allerdings könnte der Supreme Court der Premiermin­isterin einen Strich durch die Rechnung machen. Noch im Januar wird das höchste Gericht des Königreich­s darüber urteilen, ob das Parlament ein Mitsprache­recht bekommt und ein Gesetz erlassen muss, dass May berechtigt, den Brexit einzuleite­n. In diesem Fall wären, wie der Engländer sagt, alle Wetten vom Tisch und vieles möglich. Das Unterhaus könnte Gesetzeszu­sätze verabschie­den, das Oberhaus wäre versucht, das legislativ­e Verfahren zu verzögern. Auf Theresa May käme eine erste Machtprobe zu.

 ?? FOTO: AP ?? Die britische Premiermin­isterin Theresa May (60) im November bei der Zeremonie am „Remembranc­e Sunday“zur Erinnerung an die Kriegstote­n. Das traditione­lle Symbol des Gedenkens sind in Großbritan­nien rote Mohnblüten, „Poppies“.
FOTO: AP Die britische Premiermin­isterin Theresa May (60) im November bei der Zeremonie am „Remembranc­e Sunday“zur Erinnerung an die Kriegstote­n. Das traditione­lle Symbol des Gedenkens sind in Großbritan­nien rote Mohnblüten, „Poppies“.

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