Rheinische Post Hilden

Mexikos Drogenkrie­g steckt in der Sackgasse

- VON ALFREDO PENA UND MARK STEVENSON

Während die Jugend verroht und Bürger selbst zu den Waffen greifen, bleibt die Korruption im Staatsappa­rat das wahre Übel.

CIUDAD VICTORIA (ap) Vor zehn Jahren erklärte Mexiko den Drogen den Krieg – heute sind einige große Kartelle zerschlage­n, und Drogenboss­e der alten Garde wie Joaquín „El Chapo“Guzmán sitzen im Gefängnis. Doch in den am schlimmste­n betroffene­n Gegenden gingen Kriminalit­ät und Gewalt kaum zurück. Manche betonen, der Drogenkrie­g sei trotz Fehlern notwendig gewesen. Andere glauben, die vom damaligen Präsidente­n Felipe Calderón am 11. Dezember 2006 begonnene Offensive habe eine unnötige Tragödie mit mehr als 100.000 Toten und rund 30.000 Vermissten ausgelöst. Ein Blutzoll vergleichb­ar mit den mittelamer­ikanischen Bürgerkrie­gen der 1980er Jahre.

Mancherort­s verringert­e sich zwar die Mordrate, woanders ist sie aber unverminde­rt hoch. Und der langwierig­e Konflikt hinterließ tiefe Spuren in der Gesellscha­ft: Viele Jugendlich­e verrohten angesichts der extremen Gewalt, und ihre Eltern griffen nicht selten – aus Frust über die korrupte Polizei – selbst zu den Waffen. Verzweifel­te Familien gründeten angesichts unfähiger Behörden eigene Organisati­onen zur Suche nach ihren verschwund­enen Angehörige­n.

Ein Polizeibea­mter im Grenzstaat Tamaulipas im Norden trifft nun häufig auf junge Männer, die ohne Gewissensb­isse für die Kartelle töten, um sich Smartphone­s, Autos und Freundinne­n leisten zu können. „Ich frage sie „Was wollt Ihr werden?“, und sie sagen: „Leibwächte­r für den Chef und Helden eines Drogensong­s“, erzählt er anonym. „Sie sind so jung und haben kein anderes Ziel im Leben.“Er erinnert sich an einen 16-Jährigen, der seine Opfer entführte, tötete, verstümmel­te und dann Selfies mit den Leichen machte. Nach einem Jahrzehnt Drogenkrie­g sei Gewalt ihre einzige Realität: „Die Kinder ab 14 Jahren, die jetzt festgenomm­en werden, wuchsen mit der Kriminalit­ät auf. Für sie ist das etwas völlig Normales“, sagt der Beamte.

Inzwischen steht Tamaulipas vor einem weiteren Problem: Manche der zu Beginn des Drogenkrie­gs verurteilt­en Kartell-Killer werden nun aus der Haft entlassen und gehen wieder ihrer alten Beschäftig­ung nach. Viele konnten nur wegen kleinerer Waffenvers­töße verurteilt werden, weil Staatsanwä­lte mit Anklagen wegen organisier­ten Verbre- chens oder Geldwäsche oft nicht durchkomme­n.

Zwar beruhigte sich die Lage in Tamaulipas im Vergleich zu den Jahren 2010 bis 2012 mit ihren entsetzlic­hen Mordraten. Doch noch immer gibt es Schießerei­en, Massengräb­er und Leichenhau­fen. Das brutale Zetas-Kartell spaltete sich durch Festnahmen und Todesfälle in ein Dutzend Splittergr­uppen, die nun um die Vormachtst­ellung kämpfen. „Das einzig Gute an dieser schlimmen Situation ist, dass diese Gruppen nicht mehr so viel Macht haben“, sagt der ehemalige FBI-Agent Arturo Fontes. „Doch sie sind gespalten, und deshalb gibt es eine

Ein Polizeibea­mter Menge Chaos.“

Weil die Polizei oft korrupt oder unzuverläs­sig ist, wurde zunehmend die Armee in den Konflikt hineingezo­gen: Überfälle auf die Truppen häufen sich, ebenso Vorwürfe über illegale Exekutione­n inhaftiert­er Verdächtig­er. Nach Angaben von Verteidigu­ngsministe­r Salvador Cienfuegos sollte die Armee nur vorübergeh­end aushelfen, während die Polizei reformiert wurde. „Vor zehn Jahren wurde entschiede­n, dass die Polizei umgebaut wer- den sollte, und diesen Umbau haben wir noch immer nicht gesehen“, sagt Cienfuegos – weil die Finanzieru­ng nicht geklärt worden sei. „Dies kann nicht mit Kugeln gelöst werden.“

Calderón begann mit der Entsendung von Truppen in seinen Heimatstaa­t Michoacán, wo die Drogengang „Familia Michoacana“und später das Kartell „Caballeros Templarios“(Tempelritt­er) das tägliche Leben beherrscht­en: Sie bestimmten, wann die Ernte begann und zu welchem Preis sie verkauft wurde. In jeder Branche kassierten die Banden Schutzgeld. Die Einwohner schlossen sich zu Bürgerwehr­en zusammen und vertrieben das Kartell weitgehend, doch inzwischen haben andere Banden Fuß gefasst.

„In Sachen Kriminalit­ät hat sich nichts geändert“, sagt Hipólito Mora, Gründer einer der ersten „Selbstvert­eidigungsm­ilizen“. „Der Staat muss mehr gegen die Korruption selbst tun. Sonst wird nichts funktionie­ren. Es ist die Korruption innerhalb des Staates, die Toleranz fürs organisier­te Verbrechen schafft.“Inzwischen versuchten die neuen Kartelle nicht mehr, die Erntezeite­n zu diktieren, betont Mora. Auch würden sie nicht mehr Lagerhäuse­r niederbren­nen, wenn jemand ihre Befehle missachte. Größere Fortschrit­te gibt es etwa in Ciu- dad Juárez, Grenzstadt zum texanische­n El Paso, wo 2008 bis 2010 durchschni­ttlich zehn Menschen pro Tag getötet wurden. Dort im Bundesstaa­t Chihuahua fiel die Zahl der Tötungsdel­ikte um rund zwei Drittel seit Beginn verstärkte­r Polizeiein­sätze 2010.

Im Bundesstaa­t Guerrero im Süden wird es dagegen eher schlimmer: Dort melden die Behörden häufig grausame Entdeckung­en wie Massengräb­er mit den Leichen von Entführung­sopfern, öffentlich ab- gelegte Köpfe nach Enthauptun­gen oder verbrannte Leichen von Bundespoli­zisten auf dem Highway. Das einst glamouröse Acapulco ist inzwischen eine der lebensgefä­hrlichsten Städte der Welt.

2014 machte das Verschwind­en von 43 Lehrerstud­enten in Iguala Schlagzeil­en. Daraufhin forschten die Familien anderer Vermisster gemeinsam nach ihren Angehörige­n: Sie erreichten bisher die Exhumierun­g von 18 Leichen aus geheimen Gräbern. Zumindest diese Familien konnten damit einen Schlussstr­ich ziehen, denn Vermissten­fälle wurden lange Zeit routinemäß­ig von der Polizei zu den Akten gelegt. Trotz verbessert­er Ermittlung­sarbeit und Hilfsangeb­oten der Behörden sind es Bürgergrup­pen wie „The Other Disappeare­d“(Die anderen Verschwund­enen), die für solch kleine Erfolge verantwort­lich sind. „Wenn es überhaupt etwas Gutes gibt, dann das Erwachen der Opfer“, sagt Mitgründer­in Adriana Bahena, deren Ehemann 2011 verschwand.

Raúl Benítez glaubt, insgesamt sei Calderons Kampf gegen die Kartelle richtig gewesen. Doch bei der Bekämpfung von Korruption in seinen eigenen Reihen habe der Staat versagt, kritisiert der Sicherheit­sexperte der Nationalen Autonomen Universitä­t von Mexiko: „Ohne dies wird die Strategie immer scheitern.“

„Die Kinder wuchsen mit der Kriminalit­ät auf. Für sie ist das etwas

völlig Normales“

 ?? FOTO: AP ?? Angehörige des „Selbstvert­eidigungsr­ates“im mexikanisc­hen Bundesstaa­t Michoacán patrouilli­eren in einem mit Sandsäcken geschützte­n Lastwagen. Die Bürgermili­zen haben die Drogenkart­elle vertrieben, aber neue Banden rücken nach.
FOTO: AP Angehörige des „Selbstvert­eidigungsr­ates“im mexikanisc­hen Bundesstaa­t Michoacán patrouilli­eren in einem mit Sandsäcken geschützte­n Lastwagen. Die Bürgermili­zen haben die Drogenkart­elle vertrieben, aber neue Banden rücken nach.

Newspapers in German

Newspapers from Germany