Die Diamanten von Nizza
Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und sah, dass ihr noch zehn Minuten blieben, bevor der Firmenwagen eintraf, der sie zum Flughafen bringen würde. Zeit genug, um Sam Levitt anzurufen, seit einigen Jahren ihr Partner, was die Liebe und andere Abenteuer betraf. Gegenwärtig hielt er sich in Jamaika auf, als „Berater“seines alten Freundes Nathan, dessen Handelsunternehmen – Export kubanischer Zigarren aus der Karibik in die USA, auf nicht ganz unverdächtigen Wegen – sich mächtigen Ärger mit einem lokalen Schutzgeldring eingehandelt hatte. „Sam? Kannst du reden?“„Im Grunde schon seit meinem vierten Lebensjahr. Nein, im Ernst: mit dir immer, Liebes.“Selbst seine Stimme klang sonnig, wie Elena fand.
„Hör mal – in der Firma gibt es Ärger. Ich muss heute Nachmittag nach Paris fliegen und dann weiter nach Nizza. Zu einer Klientin, die Schadenersatz für ihre gestohlenen Diamanten fordert, und Frank verlangt, dass ich der Sache auf den Grund gehe.“
„Soll ich nachkommen? Ich bin hier so gut wie fertig. Ein oder zwei weitere Tage mit Daumenschrauben und Stiefellecken sollten ausreichen. Warum treffen wir uns nicht in Marseille? Ich rufe Francis an und sage ihm, dass er uns einplanen soll.“
Ihr gemeinsamer Freund Francis Reboul war stets ein großzügiger Gastgeber gewesen und freute sich immer auf ein Wiedersehen.
„Das wäre fantastisch. Mein Gott, ich habe die Nase gestrichen voll von der Versicherungsbranche.“
Sam blieb einen Moment stumm, bevor er antwortete. „Dann gib deinen Job auf! Du könntest mich zur Arbeit schicken und auf Luxus-Lady umsatteln.“
Das Klingeln an der Tür, das die Ankunft des Fahrers bezeugte, hin- derte Elena daran, den ebenso altmodischen wie verführerischen Vorschlag ernsthaft zu überdenken. „Ich muss los. Ich melde mich wieder, wenn ich in Paris bin.“
Im Auto ließ sie die kurze Unterhaltung noch einmal Revue passieren. War Sams Angebot ernst gemeint? Sie war sich dessen nicht ganz sicher. Ursprünglich hatte er Elena gebeten, ihn nach Jamaika zu begleiten, aber sie hatte noch die sich auf ihrem Schreibtisch türmenden langweiligen Bagatellfälle abarbeiten müssen. Dass sie die Reise nicht mitmachen konnte, war für sie beide eine große Enttäuschung gewesen. Aber eines nicht allzu fernen Tages wirst du ein Leben nach deinen eigenen Vorstellungen führen, gelobte sie sich. Ein neues Leben. Laut Air France hatte sie bis zur Ankunft in Paris zehn Stunden und fünfundvierzig Minuten Zeit, um darüber nachzudenken.
Sie f log, ein kleiner Trost, Business Class. Die komfortable Umgebung und ein großzügig bemessenes Glas mit eisgekühltem Chablis munterten sie soweit auf, dass sie sich imstande sah, den Aktenordner zu öffnen, den Frank Knox ihr mitgegeben hatte, und ihre Hausaufgaben zu machen, ohne psychischen Schaden zu erleiden.
Die Raubüberfälle waren in chronologischer Reihenfolge aufgelistet. Alles hatte im Jahre 2002 mit einer relativ bescheidenen Beute begonnen, auf drei Millionen Euro geschätzt; der Geschädigte war immerhin ein Mann vom Fach, ein Juwelier in Cannes. 2005 wurden Diamanten im Wert von zwei Millionen Euro bei einem Juwelier in SaintTropez gestohlen. 2009 waren es bereits Diamanten im Wert von fünfzehn Millionen Euro, die aus dem Traditionshaus Cartier in Cannes stammten.
(Fortsetzung folgt)