Wo ist die Mitte?
110 Tagen wählt Nordrhein-Westfalen. Für uns schreiben Persönlichkeiten aus Politik und Gesellschaft über die Entwicklung ihres Heimatlands. Zum Auftakt: Die Bürger müssen jetzt Haltung zeigen.
Denn eben wo Begriffe fehlen, / da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein. / Mit Worten lässt sich treff lich streiten, / aus Worten ein System bereiten . . .“Das schwadroniert Mephisto in „Faust I“. Einmal mehr meint man, er sei Zeitgenosse. Wir ertrinken in einer Flut von Worten, die der Verständigung dienen sollen und oft Verwirrung erzeugen. Wenn Wahlen ihre Schatten voraus werfen, verdunkeln sich Gehirne. Wozu dient noch der Begriff von der Mitte? Selbst Parteien mit Scheuklappen erklären sich zur Mitte. Ränder links und rechts halten sich für die Mitte der Welt.
Es lohnt, aufzuräumen. Die Mitte als wohlfeiles Etikett kann man vergessen. Die Mitte ist eine Haltung. Das gilt es zu erinnern und freizulegen. Sie gilt es zu wecken, damit sie nicht von den Rändern untergepflügt wird. Johannes Rau wurde so verstanden: Er war kein Spalter, sondern ein Versöhner. Er führte Interessen zusammen, die zusammengehörten. Die, die Sozialpolitik brauchen, mit denen, die sie wollen und bezahlen. Ökologie und Ökonomie. Freiheit und Sicherheit. Das sind Beispiele sinnvoller „Bündnisse der Vernunft“. Die boten einen weiten Orientierungsrahmen für den öffentlichen Diskurs. Rau-Wähler wussten: Die Formeln des Lebens gehen nicht restlos auf. Man muss und kann mit Widersprüchen leben. Es wird nichts so heiß gegessen wie gekocht. Kommt Zeit, kommt Rat. Denken folgt auf Schwierigkeiten und geht dem Handeln voraus.
Viele hatten die Diktatur bis zur bitteren Neige erlebt. Sie erkannten die Demokratie als menschlichste aller Staats- formen, spannungsarm, aber pragmatisch und konstruktiv. Sie kontrolliert die Macht durch diejenigen, die unter Machtmissbrauch zu leiden hätten. Sie ist nicht Diktatur der 51 über die 49 Prozent. Sie ersetzt das Entweder-oder durch das Sowohl-als-auch. Sie hat die Kraft, widersprechende Konzepte nebeneinander bestehen zu lassen.
Der Wähler der Mitte hat Leidenschaften, kann aber die Grundrechenarten. In seinem Stammbuch stehen Sätze, mit denen er ökonomische Traumtänzer und Finanzjongleure in die Schranken weist: „Von nichts kommt nichts“und „Gib nicht mehr aus, als du hast!“
Er mag einen Finanzminister wie Norbert Walter-Borjans, der die stoppt, die sich aus der Steuersolidarität schleichen. Er mag die nicht, die sich zu wenig kümmern, wenn das Land in zu vielen Lebensbereichen anderen hinterherhinkt. Er misstraut denen, die ihm die Welt schönreden. Er hat nicht einen Standpunkt, sondern einen Horizont. Er balanciert nicht auf dem Hochseil steiler Glaubenssätze, sondern bewegt sich in vielfältiger Landschaft.
Er misstraut dem „Sprech“der Funktionäre, die ihn mit eingeübten Floskeln dummschwätzen. Er weigert sich, zwischen Schwarz und Weiß zu entscheiden. Er hält Kompromisse nicht für den Zusammenbruch seines Selbstwertgefühls. Er weiß: Jede Medaille hat mindestens zwei Seiten. Oft nämlich hat sie auch drei und mehr. Er hört sich die heiser erregten Reden der Apokalyptiker an, auch die der Insassen des Wolkenkuckucksheimes, denen das Brett vor dem Kopf die Welt bedeutet.
Aber er denkt selbst. Er mag weder Sprachpolizei, der politische Korrektheit wichtiger ist als die Wahrnehmung