Regieren im kleinen Kreis
Verfassung regelt klar die Zuständigkeiten von Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung. Doch wenn es wichtig wird, gleichen sie oft nur Statisten. Besonders ausgeprägt ist das in Merkels Kanzlerschaft. Wie kam es dazu?
BERLIN Jedes Wort, das im Plenum des Bundestages gesprochen wird, halten die Stenografen fest, damit sich jeder Bürger einen Eindruck davon verschaffen kann, welches die ausschlaggebenden Argumente für die Mehrheit waren, die Gesetze genau so zu formulieren. Und welche Alternativen die Minderheit im Parlament vorzuschlagen hatte. Das folgt aus der deutschen Verfassung, die ein fein ausbalanciertes Gesetzgebungsverfahren entwickelt hat. In nun fast sieben Jahrzehnten hat das Verfassungsgericht zudem die Rechte des Parlaments immer weiter konkretisiert und verfestigt.
Das genaue Gegenteil der mitstenografierten öffentlichen Rede geschieht indes an den Orten, die das Grundgesetz überhaupt nicht vorsieht: Kein Wort, das in den Sitzungen des Koalitionsausschusses von CDU, CSU und SPD gesprochen wird, soll an die Öffentlichkeit. Auch von den Treffen der drei Parteivorsitzenden oder dem Ringen von Kanzlerin und Ministerpräsidenten wird nur das kundgetan, worauf sie sich verständigt haben. Und das ist in den brenzligen Phasen der Entscheidungsfindung oft wichtiger als alles, was das Grundgesetz dazu vorschreibt.
Das Handeln neben der Verfassung beginnt schon am Tag nach der Wahl. Damit Artikel 63 (Bundeskanzler wird, wer die Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich vereinigt) überhaupt zum Tragen kommt, muss sich eine solche Mehrheit erst einmal finden. Nicht Abgeordnete übernehmen das Verhandeln, sondern Parteien. Wenn diese in der Grundrichtung übereinstimmen, können sie Koalitionsvereinbarungen auf wesentliche Punkte beschränken.
In den Anfangsjahren der Republik waren dicke Vertragswerke wie heute vollkommen unvorstellbar. Wie man mit Problemen konkret umgehen würde, überließen die Koalitionspartner im Wesentlichen den Beratungen zu dem Zeit- punkt, an dem die Fragen anstanden. Bei großen Koalitionen ist das grundsätzlich anders. Denn in großen Koalitionen versuchen zwei Parteien den Schulterschluss, die gegeneinander angetreten sind und beide den Anspruch haben, den nächsten Kanzler zu stellen. Sprich: Misstrauen begleitet sie auf Schritt und Tritt. Und deshalb gleichen die von großen Koalitionen geschriebenen Koalitionsverträge nicht nur späteren Gesetzesbegründungen, sie entstehen auch zumeist in einem langwierigen Verhandlungsprozess. Und da eine Koalition nur Bestand hat, wenn sie an dem Vereinbarten festhält, schreibt jeder Koalitionsvertrag fest, dass „wechselnde Mehrheiten“ausgeschlossen sind: Keiner der Beteiligten darf sich also Mehrheiten für andere Entscheidungen als das Vereinbarte gegen den Partner suchen.
Damit ist bereits vor dem Entstehen des ersten Gesetzentwurfes der Handlungsspielraum von Bundesregierung und Bundestag eingeengt – es sei denn, die Entwicklung zwingt die Partner dazu, anders zu verfahren. Aber auch für diesen Wechsel braucht es nur beim Vollzug Parlament und Regierung. Die grundlegende Neuorientierung erfolgt wieder in dem von der Verfassung nicht vorgesehenen Treffen der Koalitionäre.
Das war so in der kleinen Koalition, als aus der vereinbarten und beschlossenen Laufzeitverlängerung für Kernkraft in Deutschland eine Laufzeitverkürzung wurde. Und das geschah erst recht in der dritten großen Koalition, als die Flüchtlingskrise Bund, Länder und Gemeinden vor völlig neue Herausforderungen stellte. Auf die grundlegenden Weichenstellungen verständigten sich zunächst die Parteichefs Angela Merkel (CDU), Sigmar Gabriel (SPD) und Horst Seehofer (CSU). Es folgte das Herunterbrechen auf verschiedene Gesetzesvorhaben im Koalitionsausschuss und etwa parallel dazu die Verhandlungen zwischen Bund und Ländern in den Zusammenkünften mit den Ministerpräsidenten im Kanzleramt. Das bekommt dann mitunter auch skurrile Züge. Denn dann sitzen nicht die beieinander, die von der Materie die meiste Ahnung haben, sondern diejenigen mit der meisten Macht in Parteien und Regierungen.
Sind mögliche Optionen im Vorfeld von den Verfassungs-Experten bis ins Kleinste erörtert worden, ist das für das Ergebnis wenig problematisch. Schwierig wird es, wenn die Chefs plötzlich neue Kompromiss-Ideen haben. Dann bricht den in Nebenräumen wartenden Spezialisten nicht selten der Schweiß aus. Sind nach oft monatelangem Tauziehen Wege gefunden, muss es dann meist sehr schnell funktionieren.
Dann geht es im Galopp durchs Parlament. Und auch die Runden durch die Ländervertretung, den Bundesrat, haben mehr den Charakter von Sechstagerennen als von einem ausgeruhten Gang der Gesetzgebung. Als die Zahl der Gesetze mit Fristverkürzungen zum Ende letzten Jahres zweistellig zu werden drohte, konnten sich auch erfahrene Gesetzesmacher kaum daran erinnern, dass jemals eine solche Fülle von Stoff in so kurzer Zeit durch Bundestag und Bundesrat gequetscht wurde. Das hing auch damit zusammen, dass die Länder ein Interesse daran hatten, die vom Bund abgehandelten Milliarden so schnell wie möglich im eigenen Haushalt vorzufinden.
In der Kanzlerschaft Merkels kommt hinzu, dass fast alle politischen Entscheidungen Europa-Bezüge aufweisen. Die Verfassungsgeber und das Verfassungsgericht haben die Beteiligungsrechte von Bundestag und Bundesrat auch auf Europa-Ebene immer weiter ausdifferenziert. Aber auch dort werden die wichtigsten Wegmarken in kleinen Zirkeln bei nächtlichem Ringen gefunden.
Am formalen Einschalten des Parlaments ändert das nichts, und bei den Griechenland-Hilfen hatten die Regierenden Mühe, ihre Mehrheit im Bundestag zu gewinnen. Doch die Realität hat sich so weit von der geschriebenen Verfassung entfernt, dass die Lektüre des Grundgesetzes beim Verstehen der wirklichen Entscheidungsfindung keine wesentliche Hilfe mehr ist.
Das genaue Gegenteil der öffentlichen Rede geschieht an den Orten, die das Grundgesetz gar
nicht vorsieht