Die Diamanten von Nizza
Sie hatte die Hälfte des Tisches mit einem Dutzend ledergebundener Präsentationsmappen belegt, eine für jedes Objekt, an dem sie in den letzten Jahren mitgewirkt hatte. Jede Mappe enthielt einen mit zahlreichen „Vorher/Nachher“- Fotos versehenen Bericht über die wundersame Verwandlung, die sie bei Immobilien von Marseille bis Monaco zustande gebracht hatte. Den Osbornes, das wurde rasch klar, gefiel, was sie zu Gesicht bekamen. Susie schien besonders angetan zu sein und machte keinen Hehl daraus, entdeckte mal „märchenhafte“, mal „hammermäßige“Details auf fast jeder Seite. Beide waren zudem beeindruckt, dass Coco sich rühmte, jede Kleinigkeit höchstpersönlich in die Hand zu nehmen, wie banal sie auch sein mochte: ein Bidet mit Meerblick, Geschirrspüler auf Augenhöhe, die den Eigentümern das lästige Bücken ersparten, rutschfeste Bodenfliesen in der Dusche – wichtige Einzelheiten, die das sogenannte Tüpfelchen auf dem i darstellten, das so oft vernachlässigt wurde. Die Lobeshymnen nahmen kein Ende, Coco versprühte ihren Charme und Gregoire schickte die drei zum Mittagessen, in der festen Überzeugung, dass Cabinet Dumas kurz davor stand, die Liste seiner Klienten zu erweitern.
Die Maschine der British Airways hob um Punkt 17:50 Uhr zu ihrem Flug vom Norman Manley Airport in Jamaika nach Gatwick ab. Kaum an Bord, ließ sich Sam mit dem erleichterten Seufzer eines Mannes in seinen Sitz fallen, der eine hektische Woche im Büro hinter sich hatte. Die Situation hätte in diesen wenigen Tagen eskalieren können, aber sie war durch die unerwartete Beziehung entschärft worden, die Sam zu Clyde Braithwaite aufzubauen vermochte, dem führenden Kopf der leistungsstärksten Schutzgeldorganisation von Kingston. Als dieser entdeckte, dass Sam im legendären Chateau Marmont in Hollywood lebte (Sam verzichtete darauf, ihn aufzuklären, dass es sich dabei um ein Hotel handelte, freilich um eines, das architektonisch immerhin dem Schloss Amboise im Loiretal nachempfunden war), zeigte er sich beeindruckt, einen so angesehenen Bewohner von L. A. kennenzulernen. Anders als Britney Spears hatte Sam im Chateau Marmont kein Hausverbot, er war auch nicht, wie einst die Rabauken von Led Zeppelin, dort mit einem Motorrad die Flure entlanggerattert, und erst recht war er nicht so unbeholfen und überalkoholisiert wie Jim Morrison an gleicher Stelle vom Dach gepurzelt. Der Rum floss in Strömen, reichlich bemessene Portionen Jerk Chicken – auf jamaikanische Art scharf gewürztes und auf Holzkohle gegrilltes Hühnchen – wurden konsumiert, und die beiden Männer trafen eine für beide Seiten gewinnträchtige Übereinkunft, die sowohl für Braithwaite als auch für Sams Freund Nathan, den Zigarrenschmuggler, annehmbar war. Sams Belohnung waren immerwährende Dankbarkeit, ein ansehnlicher Scheck und eine regelmäßige Belieferung mit Bolivar Belicosos Finos, der ultimativen edlen Havanna, einer mittelkräftigen Zigarre in spitzem Format, dem kolumbianischen Freiheitskämpfer Simón Bolivar gewidmet, der sich neben dem Genuss von heißer Schokolade und edlem Tabak vor allem der Unabhängigkeit Lateinamerikas von Europa gewidmet hatte. Die Touristensaison in Jamaika war vorüber, und die Business-Klasse war unterbesetzt. Für Sam, der Langstreckenflüge stets als willkommene Gelegenheit betrachtet hatte, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen, war es ein Leichtes, dem Reiz der Bordverpflegung und Bordfilme zu widerstehen. Er lehnte sich in seinem Sitz zurück und sann über die letzte Unterhaltung mit Elena nach. Ihre Geschäftsbesprechung in Paris war frustrierend verlaufen. Die französischen Kollegen hatten ihre Hausaufgaben gemacht, keine Frage, sowohl was ihre Klienten als auch die Polizei betraf. Doch der Dieb oder die Diebe hatten ihnen nichts an die Hand gegeben, womit sie arbeiten konnten, und ihnen einen leeren Safe, aber keine Spuren oder Anhaltspunkte für die Entwicklung ausgeklügelter Theorien hinterlassen. Das stachelte Sams Neugierde ungemein an. Er beschloss, sich Elena als inoffizieller technischer Berater zur Verfügung zu stellen. Recht und Ordnung auf die Sprünge zu helfen würde nach seinen Diensten als Unterhändler von Zigarrenschmugglern eine angenehme Abwechslung darstellen, und genau dieser Abwechslungsreichtum verlieh seinem Berufsleben eine interessante Note.
Es war etliche Jahre her, seit Langeweile und die wachsende Abneigung, früh aufzustehen, ihn zu dem Entschluss bewogen hatten, seinen gut bezahlten Job an der Wall Street an den Nagel zu hängen, und seither waren einige unorthodoxe Karriereschachzüge erfolgt. Einige bewegten sich am Rande der Legalität, wie er vergnügt zugeben musste. Aber inzwischen hatte er ein ungezwungenes Verhältnis zu Aktivitäten entwickelt, die nicht hundertprozentig dem Gesetz entsprachen, solange sie auf Intelligenz statt Gewalt beruhten. Und es dauerte nicht lange, bis sich das Überlisten von Gaunern und anderen kriminellen Elementen in ein lukratives Hobby verwandelt hatte.
Als der Ausblick nach draußen von Karibikblau in Atlantikgrau überging, wandten sich Sams Gedanken seinem letzten Abstecher nach Marseille zu – einer Reise, an deren Ende er in der ländlichen Idylle Korsikas eine Bauchlandung hingelegt und seinen Tod vorgetäuscht hatte. Er lächelte angesichts der Erinnerung an diese dramatische Szene. Dieses Mal würde der Aufenthalt mit Sicherheit weniger ereignisreich verlaufen. Laut Elena ließ der Raubüberfall die gründliche Arbeit von Profis erkennen, und die gestohlenen Diamanten waren zweifellos schon in Antwerpen gelandet, wo sie umgestaltet und mit einer neuen Identität versehen wurden. De facto hatten die Originale aufgehört zu existieren.
Sam rieb sich die Augen und gähnte. Er spürte immer noch die Nachwirkungen des Jamaika-Rums, von dem er ein Glas zu viel erwischt hatte, und schlief problemlos ein.
Derweil befand sich Elena in Begleitung von Rebouls gut gelauntem Chauffeur Olivier auf dem Weg nach Nizza, um Madame Castellaci, dem Opfer des Diamantendiebstahls, einen Besuch abzustatten. Die jahrelange Tätigkeit in der Versicherungsbranche hatte ihre Fähigkeit, optimistisch in die Zukunft zu sehen, drastisch reduziert, und ihre Hoffnung, etwas zu entdecken, was der Polizei entgangen sein könnte, war gering; doch wie Frank Knox zu sagen pflegte, galt es, sich alle Optionen offenzuhalten. Was für eine Verschwendung, und das an einem so schönen Tag!
(Fortsetzung folgt)