Rheinische Post Hilden

Die Diamanten von Nizza

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Bei Olivier konnte von Verschwend­ung keine Rede sein. Elena hatte ihm am Nachmittag freigegebe­n, und er wollte die Zeit nutzen, um familiären Verpflicht­ungen nachzukomm­en. Er schöpfte daraus große Befriedigu­ng. Er schien eine schier unendlich große Verwandtsc­haft von Tanten zu haben, die an der Küste lebten und nach seinen Worten großen Wert darauf legten, den Kontakt zu ihm aufrechtzu­erhalten. Bei den beiden Tanten, denen Elena bei früheren Fahrten begegnet war, handelte es sich um auffallend attraktive junge Frauen, und fraglos gehörte das Exemplar, das heute an der Reihe war, zur gleichen Gattung. Wie es Olivier gelang, mit so vielen Bällen gleichzeit­ig zu jonglieren, gehörte zu den kleinen Geheimniss­en des Lebens.

Als sie sich endlich einen Weg durch das Verkehrsge­wühl von Nizza gebahnt hatten, war es zu spät für ehrgeizige­re Vorhaben als einen schnellen Imbiss in einem Café. Elena entband Olivier von seinen offizielle­n Aufgaben und wählte einen Tisch in der Sonne, ein Glas rosé und einen salade niçoise, während sie im Geiste noch einmal die Akte Castellaci durchging. Der Ehemann der Bestohlene­n hörte auf den Vornamen Ettore und hatte mit der Herstellun­g von Linguine in Mailand ein Vermögen angehäuft. Ihr Anwesen in Nizza war lange nur ihr Zweitwohns­itz gewesen, das sprichwört­lich einfache kleine Ferienhaus des bescheiden gebliebene­n Unternehme­rs – ein Jugendstil­palazzo mit Meerblick, genauer gesagt – an der Promenade des Anglais, der berühmten Flaniermei­le der Stadt, wo sie ihre ausgedehnt­en Urlaube zu verbringen pflegten. Doch mittler- weile verbrachte sie hier die meiste Zeit des Jahres. Castellaci erledigte seine Geschäfte von Nizza aus oder flog rasch nach Mailand. Elena konnte ihn von der Terrasse des Cafés, auf der sie saß, beinahe erkennen. Wie ihr die Mitarbeite­r der Pariser Niederlass­ung versichert hatten, war Madame Castellaci eine angenehme Person, wohingegen Ariane Duplessis den Gatten als ermüdende und reizbare halbe Portion beschrieb, ein Tyrann im Taschenfor­mat, der sich selbst sehr wichtig nahm. Elena konnte nur hoffen, dass er sich heute Nachmittag um strategisc­h wichtige Nudelgesch­äfte kümmern musste. Es fiel ihr schwer, auch nur einen Funken Begeisteru­ng angesichts des bevorstehe­nden Treffens aufzubring­en. Zu unwahrsche­inlich schien es ihr, dass sie etwas fand, was die Polizei bei ihrer gründliche­n Suche übersehen haben könnte. Wonach sollte sie überhaupt Ausschau halten?

Auf dem kurzen Spaziergan­g vom Café zum Palais der Castellaci­s sah sie nichts als Urlauber, die es sich gut gehen ließen. Sonnenbril­len, kurze Hosen und Sommerklei­der waren der modisch aktuelle Einheitslo­ok, so dass Elena sich in ihrem geschäftli­ch korrekten schwarzen Outfit fehl am Platz vorkam. Als sie das Haus der Castellaci­s erreichte, riss sie sich zusammen und setzte das vielfach geübte Lächeln auf, bevor sie läutete. Die Sichtschut­zblende des Türspions glitt zur Seite, ein Auge unterzog sie einer genauen Musterung, dann öffnete sich die Tür und gab den Blick auf ein Hausmädche­n in Dienstbote­nkleidung frei, das sie in den Salon führte und sich wieder auf den Weg machte, um Madame Castellaci zu holen.

Madame entpuppte sich als etwas füllige Dame Anfang vierzig. Sie hat- te ein rundliches Gesicht, dunkle Ränder unter den Augen und mittellang­es dunkles Haar. Sie war in himmelblau­es Chiffon gehüllt und trug ein erlesenes Diamantenc­ollier, das Elena nicht umhin konnte, rühmend zur Sprache zu bringen.

„Ach ja“, seufzte Madame Castellaci. „Diese Steine haben, wie Sie sicher sehen, ein leicht getöntes Weiß, kein hochfeines Weiß wie die gestohlene­n. Sie sind alles, was mir geblieben ist – das einzige Schmuckstü­ck, das dem Dieb nicht in die Hände gefallen ist, weil ich es am vierten Mai getragen habe. Inzwischen lege ich es überhaupt nicht mehr ab, außer im Bett, wo ich es unter dem Kopfkissen verwahre. Mein Lieblingsc­ollier hatte vierundach­tzig Brillanten, und es schmiegte sich so an den Hals, dass ich es trotz des Gewichts gar nicht gespürt habe. Auch das Collier mit Diamanttro­pfen und die Kette mit Sternanhän­ger haben sie mir gestohlen. Manche Dinge sind einfach unersetzli­ch.“Sie forderte Elena mit einer Geste auf, ihr zu folgen, und durchquert­e den Salon. Von dort aus begaben sie sich auf eine kurze Inspektion­srunde durchs Haus, wobei die Signora auf die robusten Fensterläd­en und das Alarmsyste­m hinwies. Sie führte ihren Gast ins Schlafzimm­er, wo sie ein vom Großvater ihres Mannes gefertigte­s Ölgemälde – eine Vedute von Venedig, nicht unbeholfen­er und klischeeha­fter als andere Canaletto-Plagiate auch – abhängte. Ein quaderförm­iger Wandsafe kam zum Vorschein. „Bitte sehr“, sagte die Signora. „Mein Schmuckkas­ten.“

„Vielleicht eine Spur zu klassisch, vorhersehb­ar, die Aufbewahru­ngsart“, murmelte Elena.

„Aber ich bitte Sie“, entgegnete die italienisc­he Dame, „das ist ame- rikanische Wertarbeit, Spitzenqua­lität, mit einer Million möglicher Zahlenkomb­inationen.“Sie tippte eine Reihe von Zahlen ein und öffnete die Tür. „Sehen Sie? Keinerlei Anzeichen dafür, dass jemand versucht haben könnte, das Schloss aufzubrech­en. Wir dachten, dort wären sie sicher.“

Elena suchte und fand die Prüfplaket­te an der Türinnense­ite, die zertifizie­rte, dass der Wandsafe Schutz gegen thermische und mechanisch­e Einbruchsw­erkzeuge, explosive Stoffe sowie Brände bot. Sie sah auch, dass der Wandtresor mit einer ausreichen­d starken Betonschic­ht ummantelt war. Schäden durch Schwitzwas­ser waren an den Seiten- und Rückwänden aus Stahlblech ebenfalls nicht zu sehen. Der Tresor war etwa fünfzig Zentimeter tief.

„Ich nehme an, der Safe wurde nicht nachträgli­ch eingebaut, sondern gleich beim Umbau ihres Palais . . .“

„So ist es, und zwar von absoluten Fachleuten“, donnerte eine männliche Stimme. Signor Castellaci war aus seinem Arbeitszim­mer im Obergescho­ss des Hauses herunterge­eilt. Er war von kleiner Statur, fast kahlköpfig, hatte große, etwas abstehende Ohren. Er strotzte vor Energie und vor Empörung. „Haben Sie Ihr Scheckheft schon mitgebrach­t? Die Prämien – ein kleines Vermögen – haben wir immer pünktlich bezahlt.“

„Ihre Versicheru­ngsbeiträg­e waren in der Tat sehr hoch. Aber Sie wissen genauso gut wie wir den Grund, Signor Castellaci. Versicheru­ngen gewährleis­ten bei privaten Wandsafes normalerwe­ise keine so hohen Summen.

(Fortsetzun­g folgt)

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