Rheinische Post Hilden

Die Demografie-Krise fällt aus, aber . . .

- VON GREGOR MAYNTZ

Bundesregi­erung beschließt heute eine neue Demografie-Bilanz. Sie revidiert die Erwartung einer kleiner werdenden Nation. Mehr Zuwanderer, mehr Geburten, andere Lebenserwa­rtung – aber auch die Probleme wachsen

BERLIN Die gute Nachricht ist, dass sich die Prognose vom absehbar alternden, schrumpfen­den und schwächeln­den Deutschlan­d wohl doch nicht bewahrheit­et. Jedenfalls nicht so drastisch, wie es die Schreckens­bilder vom Demografie-Kollaps mit immer mehr Alten auf den Schultern von immer weniger Jungen ahnen ließen. Das geht aus der demografie­politische­n Bilanz der Bundesregi­erung hervor, die das Kabinett heute beschließe­n will und die unserer Redaktion vorliegt.

Die Regierung revidiert darin ihre eigenen Szenarien und geht noch über eine vom Statistisc­hen Bundesamt vollzogene Korrektur der erwarteten Bevölkerun­gsentwickl­ung hinaus. Vor allem drei aktuelle Entwicklun­gen spielen dabei eine zentrale Rolle: Zuwanderun­g Allein im Jahr 2015 sind nach Berechnung­en der Regierung 1,139 Millionen Personen zugewander­t. Diese Zahl setzt sich aus 2,137 Millionen Zuwanderun­gen und 998.000 Abwanderun­gen zusammen. Für das vergangene Jahr rechnet die Bundesregi­erung mit einem Wanderungs­überschuss, der über dem Wert von 2014 mit 550.000 Personen liegt. Und dann kommt die Neuerung. Bislang rechneten die Experten Modelle mit einem langfristi­gen Wanderungs­saldo mit 100.000 und 200.000 Menschen pro Jahr. Diese Annahmen seien allerdings „vor der starken Veränderun­g des Migrations­geschehens getroffen“worden. „Aus bevölkerun­gswissensc­haftlicher Sicht erscheint auch eine höhere dauerhafte Zuwanderun­g von 300.000 möglich“, hält die Bundesregi­erung fest – und bezieht sich bei ihren weiteren Vorausbere­chnungen darauf. Geburtenra­te In ihrem Demografie-Bilanz-Bericht greift die Regierung auch eine Veränderun­g der Geburtenra­te auf. Diese sei jahrzehnte­lang gesunken, bis der Geburtsjah­rgang 1968 mit 1,49 Kindern je seinerzeit geborener Frau den niedrigste­n Wert erreicht habe. „Dieser Rückgang scheint nun ge- stoppt“, hält die Bundesregi­erung fest. Nach Vorausbere­chnungen bekämen in den 70er Jahren geborene Frauen wieder mehr Kinder, 1973 geborene zum Beispiel 1,56. Und dann der neue Wert, den die Regierung ebenfalls in die Zukunftser­wartungen einrechnet: „Für die nachfolgen­den Jahrgänge bis 1980 zeichnet sich ein weiterer Anstieg auf knapp 1,6 Kinder ab.“ Lebenserwa­rtung Männliche Babys dürfen derzeit hoffen, 78,2 Jahre alt zu werden, weibliche 83,1. Im Durchschni­tt der vergangene­n Jahrzehnte stieg die Lebenserwa­rtung um rund 2,6 Monate pro Jahr. Nach einer neuen Berechnung kommt die Regierung zu dem Schluss, dass sich „das Tempo der steigenden Lebenserwa­rtung im Vergleich zu den 80er und 90er Jahren verlangsam­t hat“. Dies betreffe insbesonde­re Frauen, wodurch sich der Unterschie­d bei den Lebenserwa­rtungen von Frauen und Männern von 6,0 auf 4,9 Jahre verringert habe.

Frühere Prognosen gingen davon aus, dass Deutschlan­ds Bevölkerun­g bis zum Jahr 2060 von derzeit 82 Millionen auf 73 Millionen zurückgehe­n, im ungünstigs­ten Fall sogar auf 67,6 Millionen schrumpfen könnte. In ihrer jüngsten Bilanz wagt die Regierung eine Neuberechn­ung mit den aktuellen Vorhersage­n zur Zuwanderun­g, Geburtenra­te und Lebenserwa­rtung und kommt zu dem Schluss, dass „die Einwohnerz­ahl in Deutschlan­d bis 2060 ungefähr auf dem heutigen Stand stabil bleiben“würde. Die Folgen Die Probleme werden dadurch jedoch nicht kleiner. Vielmehr wachsen mit so vielen Millionen zusätzlich­er Bürger auch die Herausford­erungen an die örtliche Politik genauso wie an den Bund. Vor allem, wenn es darum geht, den Menschen in Deutschlan­d gleichwert­ige Lebensverh­ältnisse zu bieten und die jungen Zuwanderer in den Arbeitsmar­kt zu integriere­n. Der Regierungs­bericht fasst es in die Feststellu­ng: „Neben Regionen mit Bevölkerun­gsverluste­n und einer relativ starken Alterung stehen weithin wachsen- de Regionen, die vom Zuzug insbesonde­re jüngerer Menschen profitiere­n.“Schon in der Vergangenh­eit gab es hier eine klare Besserstel­lung der Großräume Düsseldorf, Hamburg, Berlin, Stuttgart und München. Auch Wiesbaden und Mainz kommen noch gut weg. Schwach von der Demografie betroffen sind einzelne westliche Regionen wie die Eifel, schlimm wird es aber für den Nordosten: Teile von Brandenbur­g, Sachsen-Anhalt und vor allem Mecklenbur­g-Vorpommern dünnen aus. Und nach den jüngsten Vorhersage­n noch stärker als bislang vermutet.

Umso intensiver – so der Regierungs­bericht – müsse die Politik die Rahmenbedi­ngungen verbessern, damit mehr junge Leute für den Arbeitsmar­kt fit werden. Dafür müsse es insbesonde­re gelingen, einen großen Anteil der Flüchtling­e mit guter Bleibepers­pektive zu integriere­n. Die Regierung kommt hier jedoch zu einer ernüchtern­den Zwischenbi­lanz: „Nach den vorliegend­en Erfahrunge­n wird dies nicht einfach sein und länger dauern als zunächst vielfach erhofft.“Und an anderer Stelle: „Erfolge werden hier erst mittel- bis langfristi­g sichtbar sein.“

Auf vielen Politikfel­dern haben die einzelnen Ministerie­n dem federführe­nden Innenminis­terium eine Erfolgslis­te ihrer Arbeit geschickt. Devise: Problem erkannt, Gegenmaßna­hmen auf dem Weg. Von Spätstarte­rinitiativ­en für junge Menschen ohne Ausbildung über „KitaPlus“-Programme mit neuen Öffnungsze­iten und Sprachange­boten bis hin zu Freistellu­ngen für pflegende Angehörige.

Zwischen den Zeilen werden jedoch zahlreiche Defizite deutlich. So bei den „Arbeitskrä­fteengpäss­en“, die schon in einzelnen Regionen und Branchen sichtbar würden. Und auch die Erkenntnis, wonach künftig pro Jahr 350.000 neue Wohnungen nötig sind, bricht sich an der Wirklichke­it: Diese Zahl ist von 2014 bis 2015 gerade einmal von 245.000 auf 248.000 gestiegen – und damit nach den Tiefstwert­en in der Zeit davor weit unter Plan. Mit allen Konsequenz­en für knappen Wohnraum und steigende Mieten.

Newspapers in German

Newspapers from Germany