Ralf S. war gleich nach Anschlag verdächtig
Die neuen Ermittlungen wurden durch die „Operative Fallanalyse“des Landeskriminalamts gestützt. Doch vor allem neue Zeugenaussagen belasten den Rechtsextremen mehr als 16 Jahre nach der Tat schwer.
DÜSSELDORF 6032 Tage haben sie darauf gewartet: Auf das Klingeln an der Tür und die Polizeibeamten, die den Satz sagen würden: „Wir haben ihn.“Am Dienstag hatte die Ungewissheit für die zehn Opfer des Sprengstoffanschlags von Düsseldorf ein Ende. 16 Jahre, sechs Monate und vier Tage nach dem Attentat wurden sie von der Kripo persönlich darüber informiert, was gestern auch die Öffentlichkeit erfuhr: Der Mann, der am 27. Juli 2000 einen Sprengsatz in eine Plastiktüte
Im Gefängnis soll er ausgeplaudert haben, wie er die Bombe gebaut und den Anschlag
verübt hat
packte und in die Luft jagte, ist nach Überzeugung der Ermittler überführt. Ralf S., heute 50, sitzt in Untersuchungshaft.
Er soll seine Opfer gekannt haben. Vielleicht nicht persönlich, aber er wusste, dass diese Zwölf, die auf dem Heimweg vom Deutschkursus an dem Geländer vorbeigehen würden, Zuwanderer aus der früheren Sowjetunion waren. Und Ausländer mochte S. nicht. „Er machte sie pauschal für seine eigene finanzielle Misere verantwortlich, beklagte oft, dass Ausländer vom Staat unterstützt würden und er nicht“, berichtete gestern Udo Moll, der seit 2014 die neuen Ermittlungen zum Wehrhahn-Anschlag leitet.
In der knapp 70.000 Seiten starken Akte waren er und sein dreiköpfiges Team auch auf ein mögliches Motiv des gescheiterten Militariahändlers, der sich heute als Detektiv, Sicherheitsexperte und „Survival Coach“bezeichnet, gestoßen: Ende 1999 hatte die Privatschule, an der Einwanderern Deutschkurse vom Arbeitsamt bezahlt wurden, eine Dependance direkt gegenüber von S. Militarialaden unterhalten, in dem sich die seinerzeit sehr umtriebige rechtsextreme Szene Düsseldorfs mit Nazi-Musik und Kampfanzügen eindeckte. Zwei SkinheadTypen in langen Ledermänteln sollen sich damals mit Kampfhunden links und rechts vom Eingang der Schule postiert und die Schüler gezwungen haben, zwischen ihnen hindurch zu gehen. Zwei Wochen ließen die sich das gefallen, dann sei es zu einer Gegenaktion gekommen: Während die Skinheads unten standen, hätten sich die Sprachschüler mit verschränkten Armen an den Fenstern des Obergeschosses präsentiert – eine Demonstration von Stärke, nach der die Männer in den Ledermänteln in S. Laden ver- schwunden und nie wieder vor der Schule aufgetaucht seien. Weil die späteren Opfer nicht Teil der Aktion waren und bis zu dem Anschlag noch mehr als ein halbes Jahr verging, war den damaligen Ermittlern der Vorfall nicht bedeutsam erschienen. Heute glauben ihre Kollegen: S. habe da womöglich einen Hass auch auf die Sprachschule entwickelt. Er selbst hatte Anfang 2000 einen Offenbarungseid ablegen müssen, sein Laden lief schlecht, er hatte hohe Schulden, und auch das lastete er den Zuwanderern an.
Denen habe er es „mal richtig gezeigt“, plauderte Ralf S. 2014 aus, während er eine nicht bezahlte Geldstrafe in der JVA Castrop-Rauxel absaß. Detailreich habe er beschrieben, wie er die Bombe gebaut und den Anschlag verübt habe, sagte ein damaliger Mitgefangener unserer Redaktion. Er hatte damals auch die Polizei informiert – nachdem er sich im Internet vergewissert hatte, dass es diesen Anschlag tatsächlich gegeben hat. „Als ich las, was passiert war, habe ich Rotz und Wasser geheult.“
14 Jahre zuvor, am 27. Juli 2000, war um 15.03 Uhr der Sprengsatz detoniert, von dem später nur eine Hand voll Krümel gesichert werden konnte. Die Druckwelle zerknickte Geldstücke in den Taschen der Pas- santen wie Konfetti. Die Splitter zerfetzten ihre Körper. Zwölf Menschen, unter ihnen Tatjana und Michail, die in vier Monaten ihr erstes Baby erwarteten, Boris aus Kiew, Ekaterina aus Kasachstan, befanden sich auf der Brücke, als die Bombe explodierte. Zehn wurden schwerstverletzt, Tatjanas Baby im Mutterleib getötet. Noch während die Rettungskräfte sie in Kliniken brachten, entlud sich ein Hitzegewitter über dem Tatort, und der Regen spülte Blut und Tränen und wichtige Spuren weg.
Jahrelang haben die Ermittler der „Soko Ackerstraße“vergeblich versucht, den Sprengsatz und seinen Zünder zu identifizieren. Es blieb unklar, ob die Opfer gezielt ausgewählt oder zufällig verletzt worden waren. Und Ralf S., den sie damals nicht zuletzt wegen seiner Kontakte zur Neonazi-Szene, seiner Sprengstoffkenntnisse und auch wegen der Wohnung festgenommen hatten, die er nach dem Anschlag aufgab und in der „tatrelevante“Spuren gesichert wurden, hatte ein Alibi. Jeder andere Verdächtige auch.
Der Hinweis aus dem Gefängnis im Jahr 2014 hatte die Ermittlungen wieder in Gang gebracht. Nun stand den Kriminalisten eine neue Expertenabteilung zur Verfügung: die Operative Fallanalyse des LKA, besser bekannt als Profiler. Monatelang untersuchte sie alle Fakten des Verbrechens, gaben dann eine Einschätzung des Täters ab. „Sechs hochspezifische Punkte trafen auf S. zu“, berichtete Ermittler Udo Moll gestern.
Ralf S., der sich selbst seinerzeit gern Sheriff von Flingern nannte, mit Hund und Tarnanzug durch den Stadtteil patrouillierte und jeden verabscheute, der nicht deutsch war, bestreitet die Tat, wie er es auch vor mehr als 16 Jahren schon tat. Damals hatten ihm zwei Frauen Alibis gegeben. Die eine sei danach aus panischer Angst vor S. unbekannt verzogen, die andere habe damals eine Beziehung mit ihm gehabt. Inzwischen haben beide ihre Aussagen geändert, damit ist auch das Alibi geplatzt. Jetzt droht Ralf S., der im Internet Kurse in Selbstverteidigung anbot, ein Prozess wegen zwölffachen Mordversuchs.