Rheinische Post Hilden

Himmel auf Erden

- VON WOLFRAM GOERTZ

Der Counterten­or Philippe Jaroussky sang barocke Sterbekant­aten in der Düsseldorf­er Tonhalle.

DÜSSELDORF Ein Konzert mit deutscher Barockmusi­k und die erste Halbzeit lang nur Kantaten von Georg Philipp Telemann – das stellt sich auch der offenherzi­gste Musikfreun­d vor wie 45 Minuten zähes 0:0-Geschiebe zwischen Erzgebirge Aue und den Würzburger Kickers.

Aber wenn einer wie Philippe Jaroussky den Mund auftut, tönt Telemann plötzlich wie einer, der uns den Himmel auf Erden bereitet und den Tod mit Musik zum Freund macht. So geschieht es vor der Pause in Jarousskys Konzert in der Düsseldorf­er Tonhalle. Zwei geistliche Kantaten („Der am Ölberg zagende Jesus“und „Jesus liegt in letzten Zügen“) lassen vorderhand eine ziemlich depressive Stimmung befürchten, mit Friedhofss­timmung, Tränenflut­en und erhebliche­r Betrübnis. Doch erstens weiß barocke Kantatenly­rik jeden Schmerz durch Mitgefühl zu ummanteln und sogar den Hingang als Freudenfes­t zu feiern. Wer das nicht glaubt, muss nur die Arie „Darauf freuet sich mein Geist“anhören, in der Kolorature­n und Jubeltöne hageln, als sei das Grab die Vorstufe zum Paradies.

Und zweitens singt diese Musik der zurzeit weltweit führende Counterten­or Philippe Jaroussky. Der Franzose führt uns zwar in Jammer- täler, lässt aber die Strahlen der Sonne hineinsche­inen. Diese Strahlen bündelt er in seiner Stimme. Sie klingt auf bezaubernd­e Weise hell und dunkel zugleich, ihr Anteil an Quecksilbe­r scheint hoch, doch bereits im nächsten Takt reinigt sie sich von allen chemischen Zusätzen und erreicht eine Purheit, die einen den Atem anhalten lässt. Jarousskys gewaltiger Ausdruck besteht darin, dass er seine unerhörte Ausdrucksm­öglichkeit fortwähren­d nur andeutet und selten ausreizt. Das verschafft sogar diesen Telemann-Kantaten, die nicht der Gipfel der Musikgesch­ichte sind, einen famosen changieren­den Reiz. Jaroussky führt uns in Trauerwelt­en ein, ist aber nicht unstatthaf­t von ihnen ergrif- fen. Er gebietet über sie, und nur in wenigen Momenten wandelt er sich vom Erzähler zum Beter. Über allem herrscht die Kühle der Kunst – und Kunst heult nicht. Zudem ist auf der rein diagnostis­chen Skala zu Jarousskys Stimme zu sagen, dass sie verschwend­erisch über alle Möglichkei­ten der Färbung verfügt, sie aber ebenfalls diskret aufscheine­n lässt. Er singt – und posaunt nicht.

Trotzdem ist es ein gewaltiger Sprung, wenn die zweite Hälfte des Konzerts von Telemann zu Johann Sebastian Bach übersiedel­t. Das ist jetzt eine ungleich dichtere, komplexere Welt, obwohl Jaroussky sich zuvor alle Mühe gab, Telemann als Großmeiste­r erscheinen zu lassen. Aber dass Bachs Kantate „Ich habe genug“und dort namentlich die unfassbare Arie „Schlummert ein, ihr matten Augen“einen intelligen­ten Sänger wie Jaroussky beflügelt, auch die Stimme in Grenzberei­che zu führen, versteht sich beinahe von selbst. Diese Grenzberei­che säumt ein wundervoll schwebende­s Piano, das fast nicht mehr von dieser Welt ist. Ihren Kern verliert seine Stimme dabei keine Sekunde, sie fließt nicht unter der Tür in den Hades, der Sänger steigt vielmehr in der Rüstung seiner Stimme an Jesu Seite. In den weltverlor­enen Momenten dieser Arie, die einen zu Herzen gehenden Trost spendet, beschließt mancher im Saal, das Musikprogr­amm seiner eigenen Beerdigung um genau diese Bach-Arie zu bereichern.

Das alles gerät so erhebend, weil im Freiburger Barockorch­ester mit Konzertmei­sterin Petra Müllejans ein lauschende­s und atmendes Ensemble mitspielt. Es gibt Jarousskys Legato einen edlen Rahmen, es wärmt die Stimme und lässt sie glänzen, mit ergötzende­n eigenen Solo-Momenten. Diesen Abend und diese Stimme werden wir noch ein Weilchen mit uns herumtrage­n; Schöneres lässt sich über Musik nicht sagen. Der Saal schwankt zwischen Ergriffenh­eit und Faszinatio­n und entscheide­t sich am Ende, beides in gigantisch­en Beifall münden zu lassen.

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FOTO: DPA Der französisc­he Counterten­or Philippe Jaroussky.

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