Die Diamanten von Nizza
Als Jacques das Licht einschaltete, entfuhr Elena ein bewundernder Ausruf: Vor ihr erstreckte sich ein etwa fünfzig Meter langer, mit großen Steinplatten ausgelegter unterirdischer Gang, der sich etwas abwärts neigte. Die Kellerdecke bestand aus einer Reihe aufwärtsstrebender, geschwungener Gewölbe aus alten Mauersteinen, die im Laufe der Zeit eine blassrosa Färbung angenommen hatten. Zu beiden Seiten des Hauptganges zweigten schmalere Gänge ab, deren Eingang jeweils durch eine kopfhohe Säule markiert war. Es roch feucht, modrig, leicht schimmelig, und Elena musste unwillkürlich niesen.
„Darf ich einen Blick ins Innere des Allerheiligsten werfen?“, fragte Elena.
„Selbstverständlich“, sagte die Hausherrin, jetzt nicht frei von Stolz. Gemeinsam mit Jacques führte sie Elena in den ersten Nebengang. Die Regale zu beiden Seiten waren mit Champagnerflaschen bestückt: Pierre-Jouet, Bolling, Krug, Roederer in nahezu allen Größen: von den Magnumflaschen (1,5 Liter) über die Doppelmagnum und Rehoboamflaschen bis hin zu den sechs Liter fassenden sogenannten Methusalemflaschen. Der nächste Gang war den roten Burgundern gewidmet, in den Regalen drängten sich Louis Latour, Lafite und Margaux, wobei es immer wieder auffällige, große Lücken gab, die auf beherzten Konsum schließen ließen. Als sie nach einem Zwischenhalt bei den eher spärlich repräsentierten Italienern bei den Weißweinen anlangten, und Jacques stolz auf den weißen Wein aus Cassis, appellation contrôllée, verwies, fragte Elena die Hausherrin, ob der Wein ihr Hobby sei oder das ihres Mannes oder ihrer beide große Passion, erntete jedoch ein Lachen, nein, ihr Mann rühre keinen Alkohol an, „immer im Dienst, wenn Sie wissen, was ich meine.“
„Ich kann es mir in etwa vorstellen“, sagte Elena, die in diesem Moment einmal mehr froh war, einen Dauergeliebten zu haben, der lange, bevor es den Begriff überhaupt gab, nach einer gesunden Work-Life-Balance gestrebt und diese auch, auf nicht immer ganz legalen Wegen freilich, erreicht hatte.
Wieder im Erdgeschoss, fragte Elena, ob Jacques denn als Doorman und Kellermeister nicht hier im Hause selbst wohne, anders als das übrige Hauspersonal, das, wenn es gewaschen, gekocht und geputzt hatte, wieder in seine Privatbehausungen zurückstrebte, einer Wohnung in den schmucklosen Wohnblocks des schachbrettartig angelegten Viertels Riquier, nördlich des Hafens. Die Signora deutete mit einer Kopfbewegung nach oben. Ja, Jacques habe unterm Dach eine Wohnung.
„Wenn Sie mir die kurz zeigen, dann sind Sie vor der Neugierde einer eigens aus Amerika angereisten Versicherungsagentin, die ja gegenüber den männlichen Vorstandsvorsitzenden auch die Flugkosten rechtfertigen muss, fürs Erste sicher.“
Der Appell an weibliche Solidarität schien nicht die erhoffte Wirkung zu zeitigen. Die Signora besprach sich kurz auf Italienisch mit Jacques, der entschieden abwehrende Handbewegungen vollführte, deren Bedeutung in allen Kulturkreisen dechiffrierbar war.
„Ein anderes Mal“, sagte Signora Castellaci, „dies ist Jacques zu peinlich, er ist uns ein verlässlicher Dienstbote, zuverlässig in jeder Hinsicht, aber die Ordnung in seinem eigenen Geviert zu halten, ist nicht seine Stärke, er kann nichts wegwerfen, verstehen Sie, und dann, nun gut, er hat keine Frau . . . Sie verstehen, er hat ja auch ein Recht auf ein Minimum an Privatheit, kommen Sie ein andermal, wenn er sein wirklich kleines Zimmer so hergerichtet hat, dass er es ihnen präsentieren kann, ohne sich persönlich verletzt zu fühlen.“
Elena blieb nichts übrig, als klein beizugeben. Sie fühlte sich ein wenig vorgeführt von dieser leicht rundlichen Matrone, die gewitzter war, als sie vermutet hatte. Zum Abschied griff sie die Hand der Signora, die überraschenderweise schweißnass war. Elena ging zur Tür, nahm die Klinke in die Hand. Sie drehte sich noch einmal zurück und sagte, so ironisch, wie sie nur irgendwie konnte: „Ach, jetzt hätte ich beinahe schon wieder den eigentlichen Anlass meiner Wiederkunft, die eminent wichtige Sonnenbrille, vergessen“, trat an die Kommode und holte das Etui zielsicher unter einem Stapel Zeitungen hervor. Die Signora und der Doorman starrten sie sprachlos an. Elena Morales verschwand mit der Versicherung, dass sie sehr bald wiederkommen werde, um sich „das Zimmer des Zeremonienmeisters“anzusehen. Elena konnte die Erleichterung der beiden spüren, als sie zur Tür hinaus verschwand.
Als Olivier sie abholte und von seinen kulturellen Streifzügen erzählte, die er offenbar unbegleitet von seiner ominösen Tante im Stadtteil Cimiez unternommen hatte, wo er die imposanten Reste einer römischen Siedlungsanlage mit riesigem Amphitheater und Thermen bestaunt hatte, wies Elena ihn an, nahe an das Haus der Castellacis zu fahren. „Prägen Sie sich dieses Jugendstilpalais gut ein, Olivier. Sie werden in den nächsten Tagen, sofern Francis Ihre Dienste nicht benötigt, dieses Haus noch öfter beschatten müssen. Ihre Tante kann Sie dann ja beim Aufpassen unterstützen.“Sie beschrieb ihm ausführlich das Aussehen der Castellacis und ihres sonderbaren Bediensteten.
Erhitzt und müde und sich nach einer Dusche sehnend, öffnete sie nach der Rückkehr aus Marseille die Tür des Gästeapartments von Le Pharo und spürte auf Anhieb, wie sich die Sorgen des Tages in Luft auflösten. Sie betrat ihr Zimmer und nahm vage eine Veränderung war. In ihrem Bett lag ein Mann. Sein Kopf war unter dem Kissen vergraben, ein langer, maßvoll muskulöser Arm hing über die Bettkante herab. Die Härchen auf der Haut und die langen Finger waren ihr vertraut. Als sie näher trat und das Kissen hochhob, erblickte sie Sams gebräuntes, unrasiertes Gesicht und küsste ihn auf die Nase. Ein Auge öffnete sich. Halb grinsend, halb gähnend, klopfte er neben sich auf die leere Bettseite. „Könntest du mir eventuell etwas Gesellschaft leisten?“
4. KAPITEL
„Sam, ich fasse es nicht – ich habe tatsächlich vergessen, dir etwas Wichtiges zu erzählen.“Ein wenig verspätet und noch immer leicht erhitzt, befanden sie sich auf dem Weg nach unten, um Francis Reboul beim Abendessen Gesellschaft zu leisten, als Elena abrupt auf der obersten Treppenstufe stehen blieb. (Fortsetzung folgt)