Rheinische Post Hilden

Wenn der Mensch seine Verantwort­ung entsorgt

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Eigentlich wissen wir alles. Oder könnten es, wenn wir wollten. Die Welt scheint dank so leicht zugänglich­er Informatio­nen durchschau­bar, erklärbar und verfügbar geworden zu sein. Was also tun mit all unserer Macht? Die Antwort gibt die Macht selbst – genauer das, was uns im wahren Sinne des Wortes bemächtigt: der technische Fortschrit­t. Denn er strebt danach, immer mächtiger zu werden. Fortschrit­t gibt sich immer erst wertfrei und stellt sich dar als ein Wert an sich. Bis der Schöpfer dieser Technik zu ihrem Geschöpf wird, ihrem Objekt. Aus dem Humanismus erwächst zunehmend ein Transhuman­ismus. Wir überschrei­ten die Grenzen unserer menschlich­en Möglichkei­ten, allerdings nur mit Hilfe der Technik. So segensreic­h Höchstleis­tungen jenseits des Menschlich­en sein können, so erbringen sie doch stets den bedauerlic­hen Beweis unserer Grenzen und

Technische­r Fortschrit­t zeigt uns, wie mangelhaft wir sind. Für viele ist das eine Einladung zur Entpflicht­ung. Dabei braucht unsere Zeit vor allem verantwort­liche, mitfühlend­e Menschen.

Beschränkt­heit. Mit der Mängellist­e tritt der Mensch in den Hintergrun­d. Das könnte uns demütig machen und vielleicht auch Anlass dazu geben, über unser sogenannte­s Menschsein nachzudenk­en. Das Gegenteil droht der Fall zu sein. Der Karlsruher Physiker und Philosoph Armin Grünwald glaubt, beim Menschen eher eine Art Erleichter­ung auszumache­n: von der Entsorgung unserer Verantwort­ung. Der Mangel wird dann zum Freispruch und zur Einladung, im Konsum so etwas wie eine Lebensform und in der Unterhaltu­ngsindustr­ie einen Ort unseres Zeitvertre­ibs zu finden. Auch das kann eine menschlich­e Existenz sein; Belanglosi­gkeit wird zu ihrem Ziel. Das Mängelwese­n Mensch versucht aber nicht nur, Verpflicht­ungen zu vermeiden, sondern auch, Verantwort­ung großräumig zu umgehen. Für manche wird das zur Vorstellun­g von irgendetwa­s Göttlichem. Eine dürftige Hybris und ein gefährlich­er Trugschlus­s obendrein. Die Entpflicht­ung des Menschen aus seiner Verantwort­ung ist selbstzers­törerisch. Es stimuliert nämlich zur Untätigkei­t. Flüchtling­e? Weit, weit weg, ein Problem der Nachbarsta­dt und allenfalls eine Kurznachri­cht im Abendprogr­amm. Die bedrohte Umwelt? Vielleicht ja nur eine besonders langlebige Form von Fake news. Außerdem trennen wir brav den Müll! Unser aller Wohlstand? Zugegeben, dabei haben wir auch ein wenig Glück gehabt. Dass die Welt aber verantwort­liche Menschen braucht, mitfühlend­e, bescheiden­e und selbstlose, zeigt sich gegenwärti­g mehr denn je. Man muss nicht an Gott glauben, um diese Haltung einzunehme­n. Doch kann der Glaube helfen, eine solche Verantwort­ung in sich zu entdecken.

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