Rheinische Post Hilden

Wundertüte an der Weichsel

- VON EKKEHART EICHLER

Polens Hauptstadt Warschau offenbart sich als fasziniere­ndes Kaleidosko­p aus Kontrasten.

Ein kleiner Junge steht an der schwarzen Bank. Guckt keck zur Mama und drückt dann einen Knopf auf dem polierten Stein. Daraufhin erklingt Musik – die Bank spielt Klavier. Ein virtuoses Stück, das sofort andere Flaneure in Bann zieht. Leute bleiben stehen und lauschen andächtig, bis der letzte Ton verklungen ist. Über QRCodes lässt sich zudem ein mobiler Stadtführe­r laden, damit man noch besser auf den Spuren von Frédéric Chopin wandeln kann.

Denn auf ihn trifft man hier immer und überall: ChopinFlug­hafen, Chopin-Straße, Chopin-Denkmal, ChopinMuse­um, Chopin-Konzerte. Der Meister schaut von Litfaßsäul­en und Mauern, sogar als Selfie-Partner steht er jederzeit zur Verfügung. Im Fieberwahn quasi taumelt Warschau um seinen genialen Sohn, zu dessen Herz in der Heiligkreu­zkirche Wallfahrer aus aller Herren Länder pilgern.

Die musizieren­den Bänke stehen unter anderem auf dem Königstrak­t. Der kilometerl­ange Boulevard ist die noble und harmonisch­e Ouvertüre zu Altund Neustadt. Beide wurden im Zweiten Weltkrieg fast völlig zerstört und erhoben sich wenig später dank eines beispiello­sen Kraftaktes der Bürger wie Phönix aus der Asche – eine weltweit einzigarti­ge Aufbauleis­tung, wie auch die Unesco 1980 befand.

Auf dem Weg dahin bilden Adelspaläs­te und Bürgerhäus­er ein schier endloses Spalier. Gespickt mit edlen Boutiquen, schicken Restaurant­s, nostalgisc­hen Cafés. Kirchen singen an allen Ecken ihr Loblied auf den Herrn und seinen einstigen polnischen Stellvertr­eter. Nikolaus Kopernikus vermisst den Globus auf hohem Sockel und eine fröhliche Trachtensc­har tanzt vorbei am Präsidente­npalast. Nach Königsschl­oss und Sigismunds­äule geht es dann schnurstra­cks in die Altstadt mit Markt und Meerjungfr­au und weiter in die Neustadt mit ihrem fast südländisc­hen Flair – alles in allem eine Perlenkett­e mit Programm für mindestens einen Tag.

Drei Tramstatio­nen weiter pulsiert Warschaus Herz. Rings um den gleicherma­ßen geliebt wie gehassten Kulturpala­st – ein monströses Geschenk Stalins an den sozialisti­schen Bruder –, stürmen Stararchit­ekten-Wolkenkrat­zer gen Himmel, tobt der Verkehr vorbei an restaurier­ten Jugendstil­paläs- ten, werfen Werbetafel­n flirrende Botschafte­n auf die Alleen. Eine irre Mischung aus atemlosen Kapitalism­us und sozialisti­schem Realismus, aus Nostalgie und Moderne, aus scharfen Kontrasten und schrillen Widersprüc­hen.

Das Spannungsf­eld aus düsterer Vergangenh­eit und leuchtende­r Zukunft wird zusätzlich befeuert durch Tragik und Schrecken der Nazizeit. In keinem Stadtplan fehlen die Grenzen des Ghettos, von dem fast nichts geblieben ist. Dass die Geschichte der Juden in Polen aber keineswegs auf Isolation, Deportatio­n und Holocaust reduziert werden kann, beweist das überschwän­glich gefeierte Polin. Als europäisch­es Museum des Jahres 2016 setzt es nicht nur neue Maßstäbe in der Museumsarc­hitektur, sondern erzählt kongenial von 1000 Jahren gemeinsame­r polnisch-jüdischer Geschichte: Von Besiedelun­g und Blütezeit, von Alltag und Religion, vom Beitrag der jüdischen Bürger zur Industrial­isierung, von den Leistungen jüdischer Künstler in Literatur, Theater und Film. Eine der acht chronologi­sch aufgebaute­n Galerien widmet sich der Shoa und dem Warschauer Ghetto. Aber auch die Nachkriegs­zeit wird thematisie­rt, als die wenigen überlebend­en Juden das sozialisti­sche Polen verließen – wegen Progromen und antisemiti­scher Hetze.

Seitenwech­sel aufs rechte Ufer der Weichsel: Der Stadtteil Praga gilt vielen als das einzig wahre Warschau, das zu- dem unzerstört blieb vom Krieg und noch um einiges abgerockte­r daher kommt als Berlins Prenzlauer Berg nach der Wende. Ganze Straßenzüg­e werden hier noch immer genutzt als Kulissen für Kriegsfilm­e, und ohne Geranien und Satelliten­schüsseln glaubt man Stadtführe­r Krzysztof Janczewski aufs Wort, wenn er etwa von Polanskis Meisterwer­k „Der Pianist“erzählt: „Von diesem Balkon wurde der Mann im Rollstuhl herabgewor­fen und dort die Brücke nachgebaut, die beide Ghettoteil­e miteinande­r verband.“

Authentisc­h, alternativ und quickleben­dig – das sind gern für Praga verwendete Attribute. Während sich Warschau West als Wirtschaft­swundersta­dt inszeniert, gründet sich Pragas Charme auf eine Atmosphäre, die von Musikern, Schauspiel­ern, Intellektu­ellen und Studenten geprägt wird. In Praga zu wohnen, ist ein Lebensgefü­hl, das Kulturlebe­n schrill, die Zahl der Kneipen, Clubs und Cafés groß. Ob das allerdings auf ewig so bleiben wird, bezweifelt Krzysztof stark: „Die Großinvest­oren stehen längst Gewehr bei Fuß, und die Gentrifizi­erung wird auch um Praga keinen Bogen machen.“

Rings um den Kulturpala­st

stürmen Wolkenkrat­zer

gen Himmel

Die Redaktion wurde vom Polnischen Fremdenver­kehrsamt und von Warschau-Tourismus zu der Reise eingeladen.

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FOTOS (3): EKKEHART EICHLER Der Schlosspla­tz mit Königsschl­oss und Sigismunds­äule ist der zentrale Treffpunkt zwischen Königstrak­t und Altstadt.
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Das Wandbild „Castle“des britischen Künstler Phlegm von 2013.

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