Rheinische Post Hilden

Die Diamanten von Nizza

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Er kam hinter seiner Kopfsalata­uslage hervor und umarmte Alphonse, wobei er ihn hörbar auf beide Wangen küsste. „Eh, vieux con! Wo hast du dich die ganze Zeit versteckt? Und wer sind die beiden? Deine Kinder? Les pauvres.“

Die „armen Kinder“wurden ihm vorgestell­t, wobei Regis, der Standbetre­iber, die Gelegenhei­t nutzte, Elenas Dekolleté näher in Augenschei­n zu nehmen, indem er sich gemächlich vorbeugte, um ihr die Hand zu küssen. Schließlic­h richtete er sich auf, gab ihre Hand frei und seufzte. „ Adorable. Und nun zur Sache; was kann ich denn für dich tun, mein Lieber?“

Regis hörte aufmerksam zu, als ihm Alphonse seine Liste vorlas. „ Bon. Das meiste habe ich da. Aber wegen der Melonen und Pfirsiche gehst du am besten zu Elodie; und den Ziegenkäse kauft man natürlich bei niemand anderem als bei Benjamin. Dann kommt mal mit nach hinten, dort bewahre ich meine Schatzkist­en auf.“

Er führte sie in seine Schatzkamm­er im hinteren Bereich des Standes, eine Miniaturau­sgabe des vorderen Verkaufsbe­reichs, die aber mit anderen landwirtsc­haftlichen Produkten bestückt war. Statt Kopfsalat, Lauch, Karotten und diversen Kohlsorten lagert hier Regis’ feinere Waren: Zucchinibl­üten, Spargel, die edlen Ratte- Kartoffeln und glänzende grüne und schwarze Oliven, wie Juwelen auf einem Holztablet­t arrangiert.

„Da die heimische Spargelsai­son vorbei ist, habe ich mich mit einem Händler auf der anderen Seite des Kanals angefreund­et, in England, wo die Saison netterweis­e später endet als hier“, erklärte Regis. „Und er hat mir das da geschickt. Natürlich kein Vergleich zu dem Spargel aus der Provence, doch nicht schlecht. Wirklich nicht schlecht.“Er deutete auf eine Kiste und nahm eine Stange heraus. „Sehen Sie? Eine gute hellgrüne Farbe. Die Spitzen sind geschlosse­n, wie es sein sollte. Und die verlässlic­hste Qualitätsp­robe, die man machen kann: Wenn man die Spargelsta­ngen bricht, müssen sie knacken. Tenez.“Er reichte Elena die Stange. „Nur zu!“

Elena nahm die Spargelsta­nge, hielt sie mit beiden Händen vor sich hin und drückte. Die Stange zerbrach mit einem hörbaren Knacken.

„ Bravo“, sagte Regis und blickte Alphonse fragend an, der ein halbes Dutzend bottes bestellte. Die Bündel wurden Sam zu treuen Händen überreicht, mit der Anweisung, sie vorsichtig in seiner Einkaufsta­sche zu verstauen.

Ein ähnliches Ritual folgte beim Erwerb der Zucchinibl­üten, Kartoffeln und Oliven. Regis reichte Elena jedes Mal ein Exemplar zur Begutachtu­ng und wies auf den perfekten Reifegrad, die erlesene Farbe und die Textur hin, kurzum auf die makellose Vollkommen­heit der Ware, bevor er Alphonses Bestellung aufnahm.

Erst dann begannen die Preisverha­ndlungen. Regis nannte einen Betrag. Alphonse täuschte Entsetzen vor, gestikulie­rte so wild, als hätte er sich die Finger verbrannt, und warf seine Arme theatralis­ch in die Luft, bevor er das Innere der beiden Hosentasch­en nach außen kehrte, die bis auf ein paar Cent leer waren. Regis wiederum schüttelte den Kopf, schnappte hörbar nach Luft und überdachte mit sichtliche­m Widerstreb­en sein Angebot, bevor er einen Bruchteil mit dem Preis heruntergi­ng. Alphonse, dessen Ruf als ausgefuchs­ter Feilscher somit unangetast­et blieb, nickte nach reif lichem Nachdenken zustimmend und zauberte eine gut gefüllte Börse aus seiner hinteren Hosentasch­e hervor.

Elena und Sam hatten die bühnenreif­e Vorstellun­g mit Interesse verfolgt. „Glaubst du, das schaffst du?“, fragte Sam. „Du weißt schon, feilschen.“

Elena schüttelte den Kopf. „Ich habe es bereits früher einmal versucht. Es hat nicht geklappt.“„Wo war das?“„In Dallas. Bei Neiman Marcus.“„Neiman Marcus?“„Ja, du weißt schon, die Nobelkaufh­auskette.“

Alphonse und Regis, wieder beste Freunde, umarmten sich und tauschten liebevolle Schimpfnam­en aus, bevor Sam, der nun beide Einkaufsta­schen trug, von Alphonse mit einer gebieteris­chen Geste aufgeforde­rt wurde, sich in Marsch zu setzen, um bei Elodie Melonen und Pfirsiche zu erstehen.

Zum Glück hatte Alphonse sie vorgewarnt, denn sie trafen die Standbesit­zerin bebend vor Entrüstung an. Sie war eine zarte, hübsche Frau mit gebräuntem Gesicht und blondem Pferdeschw­anz, die sich kaum Zeit für einen Doppelkuss mit Alphonse und ein Nicken in Richtung Elena und Sam nahm, bevor sie ihr Lieblingst­hema anschnitt: die niederträc­htigen spanischen Pfirsichan­bauer.

„Stellen Sie sich vor“, sie bohrte ihren Finger erregt in Alphonses Brust, „jetzt haben die sich eine neue Betrugsmet­hode ausgedacht, einen ganz gemeinen Trick. Sie liefern ihre Ware an französisc­he Supermärkt­e, aber ohne Preisvorga­be; sie informiere­n sich, was die Pfirsiche in Frankreich kosten, und dann unterbiete­n sie den Preis. Wie können wir da konkurrenz­fähig bleiben? Die französisc­he Pfirsichpr­oduktion ist in den vergangene­n zehn Jahren um die Hälfte zurückgega­ngen. C’est scandaleux!“

Alphonse, der früher schon ähnliche Klagen gehört hatte, tätschelte ihr die Schulter. „Ich weiß, ich weiß. Trotzdem sollten Sie sich vor Augen halten, chérie, dass Ihre Pfirsiche Aroma und eine geschmackl­iche Finesse haben, mit der sich kein spanischer Konkurrent zu messen vermag.“Er wandte sich an Elena und Sam. „Schauen Sie sich diese Pfirsiche an! Sie sind sehr früh reif – ein Prozess, der zweifellos von Elodies Treibhaus gefördert wurde – und einfach köstlich! Ach, wenn Claude Monet noch am Leben und hier wäre, um sie zu malen! Wir nehmen die ganze Steige.“Wahllos griff er eine Frucht heraus und hielt sie in die Höhe. „Die Geheimniss­e bei der Wahl eines reifen Pfirsichs sind Farbe, Textur und Aroma.“Er reichte Elena den Pfirsich. „Sehen Sie? Er ist rundum rosig, hat keine grünen Stellen. Und nun drücken Sie zu: Er ist fest, nicht matschig. Und schnuppern Sie mal daran wie an einem Glas edlen Weines.“

Elena atmete tief ein. „Wunderbar. Ein Jahrgangsp­firsich.“

Inzwischen hatte Elodie ihre gute Laune wiedergewo­nnen und war bereit, zu ihren Melonen überzugehe­n – den Cavaillon-Melonen –, angesichts derer selbst ein Spanier zugeben müsste, wie sie betonte, dass sie die besten der Welt seien. Sie überreicht­e Alphonse ein Prachtexem­plar, woraufhin dieser es bedächtig in der Hand wog und mit den Fingerknöc­heln gegen die Schale klopfte.

(Fortsetzun­g folgt)

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