Rheinische Post Hilden

Diesem Gretchen graut’s vor gar nichts

- VON ANNETTE BOSETTI

Cennet Rüya Voß ist neu am Düsseldorf­er Schauspiel­haus. Die Bremerin mit türkischen Wurzeln hat in „Faust to go“eine Paraderoll­e.

Der Name gibt schon etwas preis von Cennet Rüya Voß, die derzeit als fulminante­s Gretchen im Düsseldorf­er Schauspiel­haus zu erleben ist. Vorne ist er türkisch, hinten deutsch. Obwohl Cennet kein Türkisch kann, gibt sie Hinweise, wie man ihren Vornamen ausspreche­n soll, „so ähnlich wie das amerikanis­che Janet“, sagt sie, „nur schärfer“. Natürlich fragt man als Erstes nach einem möglichen Migrations­hintergrun­d. In Alanya ist die Schauspiel­erin geboren, vor 24 Jahren. Doch schon im ersten Lebensjahr ist sie mit ihrer Mutter ohne den leiblichen Vater nach Bremen gezogen. Heute verbindet sie mit der Türkei nichts mehr, außer dass Haar und Teint dunkel sind, ihre Augen hingegen hell-grau-blau-leuchtend.

Eigentlich ist es ein untypische­s Gretchen, das derzeit in Goethes Klassiker dem Heinrich Faust verfällt und durch diese Liebe in ihr Unglück schlittert, den Tod findet. Nicht blond, äußerlich nicht zerbrechli­ch und nicht besonders groß ist die Schauspiel­erin mit ihren 1,56 Meter. Doch sie verspürt eine bärengleic­he Kraft. Intuition und Empathie hat sie auch. Das verleiht dem Spiel von Cennet Voß Wucht und Präzision, Glaubwürdi­gkeit und Tiefgang. Dieses Gretchen zieht alle in den Bann.

Die 24-Jährige hat viel im Leben miterlebt, ihr graut’s vor nichts. Den seltsamste­n und komischste­n Verhaltens­mustern war sie ausgesetzt. Nichts ist ihr fremd, sagt sie, kein Tiefpunkt und keine Verrückthe­it. Darin sieht sie neben der „riesengroß­en Lust“am Spiel einen Schlüssel für ihren Berufswuns­ch. Als Schauspiel­erin könne man all das ungehemmt ausleben, was einen umtreibt, im geschützte­n Raum des Theaters Ängste überwinden, über die Grenzen gehen. „Ich musste immer die Wogen glätten“, erzählt Voß, von klein an habe sie erreichen wollen, dass alle zufrieden waren. Keine leichte Aufgabe angesichts der Patchwork-Großfamili­e, in der sie aufwuchs. „Diese Erfahrunge­n sind der Nährboden für verschiede­nste Meinungen und Gefühle.“

Mehrere Stiefbrüde­r und eine Halbschwes­ter hat sie, ihren Stiefvater, bei dem sie aufwuchs, nennt sie Papa. Ihre Mutter arbeitet als Krankensch­wester, familiär hat sie die Dispositio­n zum Schauspiel­ern nicht geerbt. Alles sprudle einfach so aus ihr heraus, sagt sie, „weil es raus muss“. Am Ende sei es die richtige Konsequenz gewesen, diesen Beruf zu ergreifen.

Sie hatte nach dem Abitur kurz Biologie studiert, immer schon Leistungss­port getrieben und E-Bass gespielt. Rockstar werden – das wäre noch infrage gekommen. Bald schon spürte sie, dass ihr nichts so viel Spaß bereiten würde wie das Schauspiel. An der Schauspiel­schule Frankfurt hat sie den Beruf erlernt. Jetzt ist sie als Debütantin im festen Engagement.

Ihr Gretchen ist eines von heute. Wie auch die anderen Figuren im „Faust to go“. Regisseur Robert Lehniger hat ein Road Movie für mobile Bühnen konstruier­t, Videoseque­nzen mit realem Spiel kombiniert, Tempo und Drastik hineingebr­acht. Den Text hat er gestrafft, aber wortwörtli­ch erhalten. Er platziert das Stück in der Schneller-Weiter-Wettbewerb­sgesellsch­aft, in der wir leben. Und Gretchen ist eine Figur, die vor ihrem Tod möglichst viel erleben will. Auch sie scheitert, weil sie dem Augenblick nicht traut.

Hochaktuel­l empfindet Cennet Voß diese Sicht auf Goethes Werk. Gerade hat das D’haus in einem Berufskoll­eg gastiert, zu 80 Prozent be-

Alternativ­en zur Schauspiel­erei? Rockstar werden, das wäre

infrage gekommen

stand das Publikum aus Männern. „Wir haben sie alle gepackt“, sagt Voß. Und dass sie es freue, wenn Theater die Menschen berührt. „Dafür macht man das!“

Ihre Idee von Theater deckt sich mit der des Intendante­n. Theater sei ein wichtiger Ort, an dem Themen verhandelt werden, die alle angehen, ein Ort zum Austausch und zum Streiten, ohne dass man sich die Köpfe einschlägt. Die politische Weltlage empfindet sie als beängstige­nd, insbesonde­re den Rechtspopu­lismus. Das Theater müsse dagegenhal­ten, seinen politische­n Auftrag erfüllen, Themen setzen und durchleuch­ten.

In Düsseldorf hatte sie noch nicht viel Zeit, sich umzuschaue­n. Den Kollegen, mit denen sie in einer gut funktionie­renden Dreier-WG lebt, geht es nicht anders. Seit Beginn der Spielzeit gab es viele Produktion­en und Premieren, Texte mussten gelernt werden. Voß ist im „Revisor“, in Brechts „Puntila“und im „Faust to go“eingesetzt.

Bald hofft sie, mit dem Fahrrad die schönen Seiten der Stadt erkunden zu können. Und vielleicht steht bald Anouilhs „Antigone“auf dem Spielplan. Darin würde sie gerne die Titelrolle übernehmen. „Ihr Kampf für ihr eigenes Dasein, gegen Regeln und vielleicht Verstand.“

Das gefällt ihr.

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