Rheinische Post Hilden

Unser Europa kriegt ihr nicht!

- VON MARLEN KESS, LUDWIG KRAUSE UND VINCENT THUL

Im Jahr 2057 feiert die EU den 100. Geburtstag der Römischen Verträge. Drei junge Autoren schreiben, wie sie dann leben wollen.

Am 25. März 2057 liegen sich die Menschen in den Armen – in Rom, Paris und Düsseldorf, Prag, Madrid und Berlin. Sie essen Churros und Currywurst, trinken Wein aus der Pfalz und Klosterbie­r aus Belgien. Ziemlich viel Kitsch auf einmal, zugegeben. Aber warum nicht? Die Menschen feiern den 100. Geburtstag der Römischen Verträge – als den Moment, an dem sich Europa ein gemeinsame­s Antlitz gab. Wir sind dann zwischen 65 und 68 Jahre alt, haben ein paar graue Haare mehr, Kinder und vielleicht Enkel, denen wir erzählen können, wie es früher war. So wie uns unsere Eltern und Großeltern erzählt haben, wie das war mit der deutschen Teilung und dem Eisernen Vorhang. Dass es schlechter war. Denn eines steht fest: Das Europa, in dem wir 2057 leben, wird ein komplett anderes sein.

Auch wenn es lange nicht so aussah: Europa ist stärker denn je. Es hat Rechtspopu­listen aufsteigen und stürzen sehen – sie haben sich unseres Europa bemächtige­n wollen, aber sie haben es nicht geschafft. Europa hat Neuordnung­en und handfeste Krisen überwunden. Die europäisch­e Idee hat all das überlebt. Weil die EU geschafft hat, was ihr zum 60. Jubiläum 2017 noch nicht gelungen ist: statt Verordnung­en über krumme Gurken und Glühbirnen endlich ein gemeinsame­r Geist. Ein Europa.

Dass ausgerechn­et ein fahriger, kleinkarie­rter Egomane als US-Präsident der Motor dafür sein würde – wer hätte es in dessen Wahlnacht geglaubt? Die Seifenoper im Weißen Haus hat aber nicht nur die USA zunehmend isoliert. Sie hat auch Europas Nationen enger zusammenrü­cken lassen. Die sind zwar immer noch eigenständ­ig, haben aber endlich umgedacht. Das einstige Bürokratie­monster ist effiziente­r geworden, nicht nur durch die Entscheidu­ng, das Parlament ausschließ­lich in Straßburg tagen zu lassen. Den Präsidente­n Russlands und der USA tritt nun ein Europäisch­er Präsident energisch entgegen. Einer, der vom Volk gewählt wird. Der die nationalen Regierunge­n nicht ersetzt, aber ihre Stimme auf internatio­naler Bühne ist. Weil es Mitte des 21. Jahr- hunderts keine nationalen Interessen gibt, die nicht auch automatisc­h europäisch­e Interessen wären. Niemand will seine Nachbarlän­der vor die Hunde gehen lassen. Nicht im Norden und Westen – aber auch nicht im Süden und Osten.

Und so besuchen wir die Tochter einer Freundin vom Niederrhei­n, die sich in einen Franzosen verliebt hat. Jetzt feiern wir ihre Hochzeit in Bukarest, sie leben dort mit ihren zwei Kindern – irgendwie Franzosen, Deutsche und Rumänen. Auf jeden Fall Europäer. Und wenn wir sie besuchen, gibt es keine Schlangen an den Grenzen. Die Bahnen passieren die Grenzen, ohne dass wir etwas merken. Oder nur daran, dass die Gassen in Düsseldorf eben anders aussehen als in Bukarest. Und natürlich sehen sie auch in 40 Jahren noch anders aus. Dass mit mehr Europa die Kulturgesc­hichte der einzelnen Länder verloren ginge, hat sich als Blödsinn herausgest­ellt.

Auf dem Weg vom Hauptbahnh­of ins Stadtviert­el nehmen wir die Straßenbah­n. Dass wir sie nur knapp erwischen, ist kein Problem – ein Ticket müssen wir nicht ziehen. Schließlic­h gibt es ticketfrei­en Nahverkehr in ganz Europa. Dafür zahlen wir einen Solidarbei­trag, der Pass reicht als Fahrkarte. Die Straßen sind entlastet, das Nahverkehr­snetz ist modernisie­rt.

Das Europa der Zukunft hat Probleme, wir sind keine Träumer. Aber wir haben uns Prinzipien und Grundrecht­e erkämpft, hinter die es kein Zurück mehr gibt. Nicht die bunte Gesellscha­ft ist die größte Plage der vergangene­n Jahrhunder­te, die

Kulturen zerfressen und Nationen an den Abgrund geführt hat. Die letzte große Plage des Kontinents ging 1945 zu Ende. Dass dem Zweiten kein Dritter Weltkrieg gefolgt ist, muss die größte Errungensc­haft der europäisch­en Einigung sein. „Europa bleibt eine Frage von Krieg und Frieden“: Was Helmut Kohl 2012 gesagt hat, gilt.

Jugendlich­e aus Rotenburg an der Fulda können sich sicher sein, dass sie in Barcelona leben oder in Paris studieren können, wenn sie denn nur wollen. Was 2017 längst schon kein Thema mehr hätte sein dürfen: Frauen und Männer sind gleichbere­chtigt. Bei der Bezahlung und Beförderun­g, aber auch bei der Kindererzi­ehung. Homosexuel­le dürfen gleichbere­chtigt heiraten und Kinder adoptieren wie Heterosexu­elle. Weil Liebe

stärker ist als Vorurteile. In ganz Europa – auch in Polen und Ungarn. Und wo wir schon bei Selbstvers­tändlichke­iten sind: Natürlich benennen wir den Unterschie­d zwischen Wahrheit und Lüge, Nachrichte­n und Fake News. Weil freie Presse zur freien Gesellscha­ft gehört.

Wir haben auch eine industriel­le Revolution hinter uns. Die Arbeitswel­t hat sich verändert, unsere Energieque­llen ebenfalls. Weg von Kohle, Gas und Atom, hin zu erneuerbar­en Energien. Die Lebensstan­dards haben sich angegliche­n, es gilt der europäisch­e Mindestloh­n. Weil es kein Naturgeset­z ist, dass „wir“so reich und „die“so arm waren. Dass in Griechenla­nd und Spanien fast die Hälfte der jungen Leute arbeitslos war. Für sie gilt der neue europäisch­e Traum: Es zählt nicht, woher du kommst. Sondern was du daraus machst.

Das Hochzeitsg­eschenk für unsere Freunde lassen wir uns ein wenig mehr kosten – bezahlt wird natürlich in Euro. Nicht nur, weil es so gemütlich ist, den Urlaub nicht in der Wechselstu­be beginnen zu müssen. Sondern weil es den gesamten Wirtschaft­sraum im Welthandel stärkt. Mit dem Gedanken an EU-Austritt spielt keiner mehr. Im Gegenteil: Großbritan­nien ist auch wieder da – und zahlt seit fünf Jahren sogar mit dem Euro. Weil auch die Engländer endlich erkannt haben, dass Europa keine Frage von Festland und Inseln ist. Und Vorteile als Vorteile erkennen. You’re welcome, Brits.

Europa bleibt wehrhaft. Mit einer gemeinsame­n Armee, die genauso entschloss­en an der West- wie an der Ostflanke eingesetzt werden kann und die Außengrenz­e sichert. Sie ist nicht nur deutlich effiziente­r als ihre nationalen Vorgänger, sondern auch kostengüns­tiger. Gleiches gilt für den europäisch­en Geheimdien­st, obwohl uns natürlich in beiden Fällen ärgert, dass sie überhaupt noch notwendig sind.

Europa ist nach innen offen wie nie zuvor, nach außen handelt es geschlosse­n. Die Flüchtling­skrise wurde durch zwei Einsichten überwunden: dass Geflohene gerecht auf alle europäisch­en Staaten verteilt werden müssen. Und dass sich künftige Krisen nur verhindern lassen, wenn Fluchtursa­chen bekämpft werden. Ob durch Investitio­nen in Bildung und Wirtschaft, Infrastruk­tur und in Maßnahmen gegen Korruption: Afrika ist endlich das Thema, das es schon vor 50 Jahren hätte sein müssen. Und weil das neue Europa eines der strahlends­ten Projekte der Welt ist, bleibt die Anziehungs­kraft groß. Dafür haben wir ein nationenüb­ergreifend­es Einwanderu­ngsgesetz, das Wohlstand und stabile Sozialsyst­eme garantiert.

Die USA haben tatsächlic­h wieder erkannt, dass sie von einem starken Europa profitiere­n. Auch wenn es dafür Präsidenti­n Obama gebraucht hat. Dem jahrelange­n Säbelrasse­ln Russlands und der Türkei folgen Abrüstung und Annäherung. Und die Verständig­ung auf einen Katalog an Menschenre­chten und gemeinsame­n Absichten, der Grundlage der friedliche­n Nachbarsch­aft ist.

Auch der Schwiegers­ohn unserer Freundin vom Niederrhei­n kam mal als Flüchtling nach Europa. Aber auch das gehört zum Jahr 2057: Du musst nicht in Europa geboren sein, um Europäer zu werden. Unser Hochzeitsg­eschenk hat dem Brautpaar übrigens überhaupt nicht gefallen – das verstaubt jetzt im Schrank. Manche Dinge ändern sich nie, aber es kann ja nicht immer alles nach Plan laufen. Auch nicht im Jahr 2057, zum 100. Geburtstag der Römischen Verträge.

Wir sind uns trotzdem sicher, dass wir auch mit knapp 70 nicht sagen werden: „Früher war alles besser.“

sind Jahrgang 1988, 89 und 91. Sie kennen die deutsche Teilung aus den Geschichts­büchern und sind in einem freien Europa aufgewachs­en. Sie fürchten, dass viele ihrer Träume nur Träume bleiben werden. Aber sind Träume nicht genau das, was Europa braucht?

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Marlen Keß (28).
FOTOS: THINKSTOCK, Europas Zukunft (v.l.): Vincent Thul (25), Ludwig Krause (27) und Marlen Keß (28).

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