Rheinische Post Hilden

Verschwund­ene, Verlorene

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Gewalt uneingesch­ränkt herrscht, welche Aussöhnung kann da schon gelingen?

Eine „verschwund­ene“oder „verlorene“Person. Mit ihr sind nicht nur die schönsten und bedeutungs­vollsten Jahre meines Lebens verschwund­en oder verloren, sondern das Licht, die Farben, die Sonnenaufg­änge, die letzten Hoffnungen auf Glück. Anlässlich der vergangene­n Woche der Verschwund­enen habe ich aus meinen alten Artikeln und dem Erzählband „Das Steinhaus“Passagen ausgewählt. *** Habt ihr je zuschauen müssen, wie ein Mensch, den ihr sehr liebt, sich auf den Weg macht, um nie wieder zurückzuke­hren? Auch jener Morgen ist wie jeder andere. Wieder hat er oder sie das Frühstück ausgelasse­n und auf nüchternen Magen eine Zigarette angezündet. Ist genervt, wie immer morgens. Hat den Schal zu Hause vergessen. War er an jenem Morgen angespannt­er als sonst, oder kam dir das nur im Nachhinein so vor, wenn du drüber nachdachte­st? Kam es nur dir so vor, wenn du jenen Morgen im Gedächtnis Tausende von Malen durchgings­t? Wenn du das nur gewusst hättest … Anstelle des oberflächl­ichen Abschieds hättest du ihn noch einmal an dich gedrückt. An dich gedrückt und nicht wieder losgelasse­n. Mit sämtlichen Bändern der Welt hättest du ihn an dich gebunden, mit sämtlichen Abhängigke­iten, Versprechu­ngen, Schwüren. Du hättest, wenn es hätte sein müssen, die Welt angehalten, nur um ihn daran zu hindern, aus der Türe zu gehen. Wenn du das nur gewusst hättest …

Hast du je auf einen Menschen gewartet, von dem du nicht weißt, was mit ihm geschehen ist? Stundenlan­g, tagelang, ohne vom Telefon wegzugehen, mit leeren Hoffnungen jedes Mal, wenn es klingelt, schon gepackt von furchtbare­n Zweifeln. Jede Sekunde reißt sich schmerzhaf­t von deinem Herzen und stürzt zu Boden, sie scheint zu zerschelle­n. Dem Rauschen der Stunden kannst du nicht standhalte­n, die Wände stürzen auf dich nieder. Bei jedem Schritt lebst du auf und hältst den Atem an. Es war nur der Nachbar.

Die Straßen wie ausgeleert. Die Welt ist mit einem enormen Klagelied überzogen, doch nur deine Ohren können es wahrnehmen. Es muss doch eine Spur geben irgendwo, unbedingt. Deine Augen scannen die Zeitungen, die Gärten, die Keller, die Busfenster ab. Du schaust an jedem einzelnen Baum hinauf, vielleicht hat er mit dem Messer ein Hoffnungsz­eichen eingeritzt. Bei einem bekannten Mantel hüpft das Herz. Vielleicht hast du das nicht erlebt, aber du erinnerst dich an so etwas. Du bist sechs Jahre alt und niemand kann verstehen, warum du wegen eines Katzenbaby­s so unglaublic­h traurig bist. Das Licht deiner Augen ist erloschen, dein Lächeln wirkt zum ersten Mal in deinem Leben aufgesetzt. Tagelang suchst du nach ihm, erst im Garten, dann auf der Straße, dann in sich immer weitenden Kreisen in der Nachbarsch­aft. Es wird dir versproche­n, dass du ein neues Katzenbaby bekommst. Deine Mutter spinnt eine Geschichte zusammen, an die du zu gerne glauben würdest, sie nennt diesen Ort Himmel. Aber du bist ein Kind, du bist eben egoistisch und willst, dass das Katzenbaby bei dir ist. Eines Abends starren deine Augen ausdrucksl­os in die Gegend. Deine Mutter erzählt wieder die gleiche Geschichte. Du beißt dir auf die Lippen und bist still. Du hast die Katze gefunden und heimlich beerdigt. Das ist dein allererste­s Geheimnis. Dein erster Verlust. Deine erste Tragödie.

Ist schon mal einer deiner Söhne ermordet worden? *** Dein Kopf war vornüberge­fallen. Zwei feuchte, einsame Sterne an einem hinter Geäst verborgene­n Firmament waren deine Augen. Die hast du bei mir vergessen. Einzeln, behutsam schob ich die Äste auseinande­r, tage-, nächtelang, jahrelang schob ich sie auseinande­r. Als ich fertig war, warst du schon längst weg. *** Einmal liebte ich jemanden. Die Vögel sprachen mit ihm. Ob ich die beiden nassen Tauben fragen soll, die sich auf den Fenstersim­s geflüchtet haben: Wo ist er jetzt? Sagt dann die eine: „In meinem Kröpfchen“und die andre: „In meinem Schwänzche­n?“Und wird dann die eine die andre und beide zu gar keiner? Wenn ich frage: „Sagt mir, wo ist sein Grab?“…

„In meinen Flügeln, in meinen Flügeln …“

Asli Erdogan:

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