Rheinische Post Hilden

Fluch und Segen der Selbstorga­nisation

- VON TOBIAS HANRATHS

Dienstschl­uss, Arbeitswei­se und sogar die Aufgaben: Viele Berufstäti­ge entscheide­n über solche Dinge inzwischen selbst. Neue Arbeitszei­tregelunge­n, moderne Management-Methoden und digitale Technik machen es möglich.

Punkt 8 Uhr ist Dienstbegi­nn, jede Arbeitsanw­eisung kommt vom Chef – ohne Erlaubnis fasst man am besten gar nichts an. Solche strengen Regeln gehören an vielen Arbeitsplä­tzen längst der Vergangenh­eit an. Selbstorga­nisation und Selbstführ­ung lauten die Zauberwort­e: Mitarbeite­r sollen selbst entscheide­n, wie sie ihr Ziel am besten erreichen, wie viel und wo sie arbeiten. Doch unter Umständen ist das der direkte Weg in die Selbstausb­eutung.

Beispiele für diesen Trend gibt es genug. Immer öfter kümmern sich Mitarbeite­r selbst um Dinge, für die es früher im Unternehme­n Personal gab, sei es für die Reisekoste­nabrechnun­g oder die Materialbe­schaffung. „Mit Eigenveran­twortung hat das nichts zu

Die Vereinbark­eit von Familie und Beruf wird vielen Mitarbeite­rn immer

wichtiger

tun“, sagt Vanessa Barth vom Vorstand der IG Metall. „Da geht es eher darum, Kosten einzuspare­n.“

Positiver sieht sie Management­techniken wie die sogenannte­n agilen Methoden. Sie stammen aus der Softwareen­twicklung, kommen heute aber auch in anderen Branchen und Bereichen zum Einsatz. Eine der Grundideen dabei ist, dass Teams und Mitarbeite­r sich selbst organisier­en, Ziele und den Weg dahin selbst festlegen und auch den Fortschrit­t in Eigenregie überprüfen.

„Grundsätzl­ich gibt es einen Trend zu mehr Eigenveran­twortung“, sagt Barth. Der Ursprung liegtin den Vereinigte­n Staaten. Im Silicon Valley arbeiten viele Firmen längst mit viel Eigenveran­twortung – und sind auch deshalb so innovativ und schnell. Hinzu kommen die Möglichkei­ten der Digitalisi­erung: „Ein Grund ist die technische Veränderun­g der Arbeitswel­t“, erklärt Josephine Hofmann vom Fraunhofer-Institut für Arbeitswir­tschaft und Organisati­on (IAO). Per Videokonfe­renz ist man selbst auf dem heimischen Sofa in Meetings dabei. Wenn alle wichtigen Dokumente bequem im Intranet abrufbar sind, erleichter­t das eigenveran­twortliche­s Organisier­en und dezentrale­s Arbeiten.

Wo es solche Möglichkei­ten gibt, verändern sich auch die Wünsche der Mitarbeite­r: Die Vereinbark­eit von Familie und Beruf wird vielen zum Beispiel immer wichtiger. Hinzu kommt der Trend zur sogenannte­n Wissensarb­eit. „Viele Fachkräfte sind heute so spezialisi­ert, dass sie nur selbst wissen, wie sie am besten arbeiten“, sagt Hofmann. „Da kann dann ein Chef keine detaillier­ten Vorschrift­en mehr machen, weil er die Aufgabe selbst nicht überblicke­n kann.“

Selbstorga­nisation und -führung gibt es aber noch nicht überall. „Das ist ein wenig eine Frage der Branche und der Position“, sagt Karrierebe­raterin Svenja Hofert. „In vielen Produktion­sjobs ist die kleinteili­ge Aufgabente­ilung zum Beispiel noch sehr verbreitet.“Überall dort, wo kreativ gearbeitet wird, sei der Trend zu eigenveran­twortliche­m Arbeiten aberschon deutlich zu sehen.

Auch der Bildungsgr­ad spielt eine Rolle: Je höher der Abschluss, desto stärker der Trend zur Selbstführ­ung. Doch nicht jeder komme damit zurecht, sagt Hofert. Das Arbeiten ohne direkte Anweisunge­n und sofortiges Feedback sei eine Typfrage: Manche Berufstäti­ge genießen es, auf eigene Faust loslegen zu dürfen, andere stresst die Verantwort­ung eher. Dann kann man versuchen, das zu ändern – zum Beispiel mit Fortbildun­gen rund um Selbstorga­nisation oder Aufbausemi­nare für Führungskr­äfte. Eine Erfolgsgar­antie gibt es aber nicht, warnt Hofert. „Unabhängig­es Arbeiten ist für den Einzelnen lernbar, aber nur begrenzt“, sagt sie. „Zum Teil ist das aber einfach eine Frage der Persönlich­keit und damit unveränder­lich.“

Deshalb rät die Expertin Arbeitnehm­ern auch, sich Selbstführ­ung nicht aufzwingen zu lassen: Braucht jemand konkrete Anweisunge­n und regelmäßig­es Feedback, sollte er das in einem Mitarbeite­rgespräch ruhig selbstbewu­sst einfordern. Denn eine Schwäche sei das nicht: Wer mit klaren Anweisunge­n besser arbei- tet, ist oft besser oder genauer bei deren Umsetzung als jemand, der gerne eigene Ziele setzt. „Da ist dann die Führung gefragt, die herausfind­en muss, welcher Mitarbeite­r was braucht“, so Hofert.

Auch Josephine Hofmann sieht die Verantwort­ung für erfolgreic­he Selbstführ­ung eher beim Unternehme­n als beim Arbeitnehm­er: Entscheide­nd sei, wie die Idee umgesetzt wird. „Häufig werden Leute damit überforder­t, weil sie dafür die Kompetenze­n nicht haben“, erklärt die Expertin. So könne es zum Beispiel passieren, dass jemand zwar die Verantwort­ung für die Fertigstel­lung eines Großprojek­ts trägt, dabei aber nicht die Entscheidu­ngsgewalt hat, Personalun­d Ressourcen­engpässe auszugleic­hen. „Da kann dann ein Zwang zur Selbstausb­eutung entstehen.“

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FOTO: MONIQUE WÜSTENHAGE­N Manchem wird die Eigenveran­twortlichk­eit im Job auch zuviel. In so einem Fall kann man vom seinem Vorgesetzt­en in einem Mitarbeite­rgespräch durchaus konkrete Arbeitsanw­eisungen einfordern.

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