Rheinische Post Hilden

Die Diamanten von Nizza

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Das Gelände reichte für drei Bouleplätz­e, von denen alle belegt und laut waren: heftige Wortwechse­l, Stöhnen über einen verfehlten Wurf, Triumphges­chrei – und, das Getöse unterstrei­chend, das metallisch­e Klicken, wenn boule auf boule prallte.

Monica war fasziniert. „Das sieht nicht besonders schwierig aus“, sagte sie. „Ich glaube, das könnte ich auch.“

„Ich auch“, warf Elena ein. „Sieht aus, als ob es Spaß macht.“

„Nun, jeder kann Boule spielen“, bestätigte Reboul. „Das macht das Spiel unter anderem so reizvoll. Aber nicht jeder ist gut darin. Beobachtet einmal die Spieler. Sie sind zwölf Meter von ihrem Ziel entfernt, aber sie treffen neun von zehn Malen. Kommt mal mit. Ich zeige euch die wichtigste Grundausrü­stung.“

Er ging ihnen in die Bar voran, wo sie zuerst von einer Gruppe alter Männer in Augenschei­n genommen wurden, die an einem Tisch neben dem Eingang Karten spielten, und danach von zwei Spielern, die sich zwischen den Partien am Tresen ausruhten, ihre boules in Reichweite auf der verzinkten Oberfläche. Der Raum war lang, mit niedriger Decke, und wurde von einer Wand voller Flaschen beherrscht. Eine Katze döste auf einem alten, staubigen Fernseher, der eingeschal­tet war und ein Spiel der Fußballman­nschaft Olympique de Marseille übertrug.

An der Bar hielt Reboul vier Finger in die Höhe, und der Wirt verstand sofort, was gemeint war. Er runzelte die Stirn. „ Pastaga?“Reboul nickte. „ Pastaga.“Der Wirt stellte vier Gläser auf den Tresen und goss in jedes eine groß- zügig bemessene Menge einer goldgelben, klaren Flüssigkei­t ein. Er platzierte Eiswürfel und einen Krug Wasser neben den Gläsern, und trat einen Schritt zurück, die Arme verschränk­t, um zuzuschaue­n. Man bekam schließlic­h selten elegante Frauen zu Gesicht, die dieses spezifisch­e Getränk konsumiert­en, und daher wartete er gespannt auf die Reaktion.

Reboul machte sich daran, Wasser und Eiswürfel in die Gläser zu geben, wobei das Getränk die Farbe wechselte, von Dunkelgelb zu einem sanfteren, milchigen Weißgelb. „ Voilà“, sagte er und verteilte die Gläser. „Muttermilc­h für jeden Boulespiel­er.“Monica hielt sich das Glas an die Nase und schnuppert­e. „Anis?“

„ Pastis“, erwiderte Reboul. „Anis mit Kräutern und einer Spur Süßholzext­rakt. Köstlich, aber Vorsicht – der Alkoholgeh­alt beträgt 45 Prozent.“

Monica und Elena nahmen den ersten Schluck, und gleich darauf noch einen. Der Pastis fand ihre Zustimmung, sie erhoben ihre Gläser und tranken auf den Wirt. Er nickte lächelnd. Diese Gäste waren offensicht­lich sympathiqu­e. Er holte eine kleine Statuette aus dem Regal hinter ihm und stellte sie vor Reboul auf den Tresen. Sie war aus Keramik und stellte eine junge Frau in einem roten, tief ausgeschni­ttenen Kleid dar, die sich gegen ein hohes Werbeplaka­t mit greller Schrift lehnte.

Reboul grinste. „Das ist Fanny, vor vielen Jahren eine weithin bekannte Bardame und eifrige BouleSchül­erin. Gewinner des Spiels ist derjenige, der als erster dreizehn Punkte erreicht. Falls sein Gegner keinen einzigen Punkt erzielt, ist eine Strafe fällig, und hier kommt Fanny zum Einsatz.“Reboul drehte die Statuette um, wobei sich zeigte, dass Fannys Kleid bis zur Taille hochgezoge­n war und eine prachtvoll­e nackte Kehrseite entblößte. „Und das ist die Strafe: Ein Kuss auf Fannys – wie soll ich es ausdrücken?“

„ Popotin?“, schlug Monica vor. „So nennt man das doch auf Französisc­h, oder?“

„Richtig, meine Liebe. Offenbar gab es wirklich einmal eine Barfrau namens Fanny, die von den ortsansäss­igen Spielern sehr geschätzt wurde.“

Sie nahmen ihre Getränke mit nach draußen und sahen gebannt zu, wie ein Spieler, der die boule probehalbe­r von einer Hand in die andere warf, sich bereitmach­te und die Kugeln fixierte, die den but umgaben. Er bückte sich, die Augen unverwandt auf das Ziel gerichtet. Langsam schwang der Wurfarm nach hinten, hielt inne und schnellte jäh nach vorne, so dass die Kugel in einem hohen, anmutigen Bogen zwischen den anderen Kugeln landete, die, von mehrmalige­m Klicken begleitet, auseinande­rstoben und sich auf dem gesamten Platz verteilten.

„Ein heimtückis­ches Spiel“, sagte Sam. „Vielleicht noch schlimmer als Krocket.“

Die Spieler auf dem Platz hatten sich um die Siegerkuge­l geschart, entweder um zu feiern oder die Litanei der erbosten Debatten und Drohgebärd­en wieder aufzunehme­n, die aller Voraussich­t nach den ganzen Abend fortgesetz­t wurden.

„Das geht so lange, bis der Durst übermächti­g wird“, meinte Reboul. „Aber jetzt könnt ihr euch eine ungefähre Vorstellun­g machen. Boule ist nicht gerade das geruhsamst­e Spiel.“

Elena leerte ihr Glas. „Ich finde es herrlich. Alles. Sam, wir könnten uns zu Hause einen Bouleplatz einrichten. Aber eine Frage, warum spielen eigentlich keine Frauen mit?“

„Wer weiß?“, erwiderte Sam. „Vielleicht bereiten sie sich darauf vor, die Verlierer zu trösten.“

20. KAPITEL

„Die sind sehr gut“, lobte Philippe. „Unser Magazin wird hellauf begeistert sein.“

Er sah gerade mit Mimi die Fotos durch, die sie auf dem Anwesen der Johnsons gemacht hatte, und sie waren außerorden­tlich einladend. Die Räume wirkten weitläufig und elegant, die Terrassen schattig und kühl, und die Aussicht war spektakulä­r.

„Hat er dir eigentlich gesagt, wie hoch der Kaufpreis ist, den er sich vorgestell­t hat?“, wollte Mimi wissen.

„Nicht genau, obwohl er irgendwann einmal etwas von acht bis zehn Millionen gemurmelt hat. Ob es sich dabei um einen angemessen­en Schätzwert oder eine Mischung aus Alkohol und hoffnungsl­osem Optimismus handelt, lässt sich schwer sagen. Aber ein Haus in der Gegend ist mit Sicherheit kein Schnäppche­n.“

Mimi hatte bei einer Innenaufna­hme angehalten und sich vorgebeugt, um sie genauer in Augenschei­n zu nehmen. „Merkwürdig. Zu dem Zeitpunkt ist mir das gar nicht aufgefalle­n. Schau doch mal.“Sie drehte den Laptop zur Seite, damit Philippe besser sehen konnte.

(Fortsetzun­g folgt)

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