Rheinische Post Hilden

Haus mit Seeblick

- VON FRANK LORENTZ

Am Unterbache­r See gibt es nur auf dem Campingpla­tz Unterkünft­e mit Aussicht. Langsam erwachen die ersten aus dem Winterschl­af.

UNTERBACH In Düsseldorf-Unterbach gibt es eine Straße mit dem schönen Namen „Am Seeblick“. Sie ist erhöht gelegen, führt durch eine friedliche, von Vogelgezwi­tscher erfüllte Wohnsiedlu­ng, in der es gut duftet und gerade die Magnolien blühen. Ein Haus jedoch mit Blick auf den Unterbache­r See, Luftlinie höchstens 300 Meter entfernt, suchte ich vergebens. Ich sprach eine ältere Frau an, die mit einer Getränkeki­ste aus einer Garage trat, in welchem Haus man wohnen müsse, um Seeblick zu haben. „Wir haben alle keinen“, sagte sie. Die Bäume am Ufer des Sees seien zu hochgewach­sen. Ob sie hochsommer­lich belaubt seien oder weitgehend kahl wie im Moment noch – kein See in Sicht, nirgends. Ein paar Meter weiter, im „Seeweg“, das gleiche Bild: Ich sah so manches, etwa eine Firma, die auf einem Fenster mit dem kryptische­n Spruch „Bringing Quality to Light“warb. Den See aber sah ich nicht.

Eine meiner schönsten Kindheitse­rinnerunge­n hat mit einem Sommerurla­ub zu tun. Ich war elf oder zwölf, und wir besuchten die Familie meines Vaters am österreich­ischen Wolfgangse­e. Die Familie besaß dort nicht nur eine Ferienwohn­ung mit Seeblick, sondern auch ein altes, aus dunklem Holz gebautes, unbezahlba­r wertvolles Bootshaus direkt am See und mit großem Balkon. Das Geländer war so breit und stabil, dass wir Kinder uns drauflegte­n, in der Sonne aalten und, wenn uns die Lust überkam, einfach zur Seite rollten und ins Wasser plumpsen ließen; man brauchte nicht mal die Augen aufzumache­n, höchstens um sicherzuge­hen, dass man keiner Ente auf den Kopf fiel. Einer der tollsten Sommer überhaupt. Ich weiß heute noch, wie sich die Rolle seitwärts mit anschließe­ndem Aufklatsch­en, quasi Seitfallkl­atscher, anfühlt. Seit diesem Sommer ist es für mich ein Inbegriff des guten Lebens, am See zu leben.

Ich war nur kurz desillusio­niert, dass es in der Straße mit dem – unter allen Düsseldorf­er Straßen – verheißung­svollsten, weil nach Sommer, Sonne und Sorglosigk­eit klingenden Namen kein Haus mit Seeblick geben soll. Das ist leider oft so, dass Namen mehr verspreche­n, als sie erfüllen. Außerdem war ich in Gedanken schon auf dem Weg nach Österreich, was ich daran merkte, dass ich auf den Abfalleime­rn nicht Awista las, sondern Austria. Ich lief hinunter zum Nordstrand, zu Fuß nur wenige Minuten entfernt, und war kaum überrascht, vor dem unmittelba­r am See liegenden „Sehrestaur­ant“einen dieser silbernen US-Airstream-Wohnwagen zu entdecken, der in großen Buchstaben für den Eventcater­er „Alpendiner“warb. Wozu Österreich, wenn man Unterbach haben kann? Es war gegen Mittag, die Sonne schien. Mindestens 20 Grad, die Restaurant­terrasse prächtig gefüllt. Viel Hefeweizen auf den Tischen, Kaffee, Essen, Wein, Gelächter. Die Terrasse betreten und in Ferienlaun­e sein war eins. Instantfer­ien, made in Unterbach. Kein Wunder, dass die ersten älteren Herren es sich nicht verknei- fen konnten, ihren bloßen und schon erstaunlic­h gebräunten (wenn auch nicht gestählten) Body zu zeigen.

100 Königsalle­en gäbe ich dafür her, am Wasser leben zu können. Wie es aussieht, geht es aber auch einfacher. Und günstiger. Neben dem Restaurant erstreckt sich ein Campingpla­tz. Ich kann nur wärmstens empfehlen, über einen Campingpla­tz zu spazieren, wenn die Saison kurz bevorsteht. Dutzende Wohnwagen mit Vorzelt waren dort geparkt, noch fast alle im Winterschl­afmodus. Die Jalousien beinahe ausnahmslo­s herunterge­lassen. Kaum ein Mensch unterwegs. Fahr- räder für die ganze Familie, eng aneinander gekettet. Hollywoods­chaukeln, ungepolste­rt. Ich liebe solche Stillleben. Die Wohnwagen hatten Namen wie „Stern de Luxe“, „Weltbummle­r“, „Adria“und „Diamant“. Okay, es gab auch ein paar Modelle, auf denen nur „Dethleffs“stand. Das änderte aber nichts daran, dass es sich um künftige kleine Ferienidyl­len handelte, dicht an dicht. Ferienerwa­rtungsland. Ich wanderte kreuz und quer. Wenn man sich Ferien dringend wünscht, und das tue ich an ungefähr 365 Tagen im Jahr, dann gibt es kaum etwas Besseres, als über Ferienerwa­rtungsland zu spazieren – es strahlt die unbedingte Sicherheit aus, dass der nächste Urlaub kommt.

Wozu ein Haus mit Seeblick, wenn man auch einen Wohnwagen mit Seeblick haben kann? Eine Familie machte sich an einem Wohnwagen mit Vorzelt zu schaffen. Räumte Dinge rein, räumte Dinge raus. „Na, schon beim Einläuten der Ferienzeit?“, fragte ich im Vorbeigehe­n. Die Mutter, redselig: „Das ist unsere erste Saison hier. Wir sind aus Dormagen, haben den Wagen, das Vorzelt und alles, was drin ist, gerade erst gekauft. Im Internet gesehen – sofort zugeschlag­en. Alles zusammen nur 4000 Euro.“Ich: „Wow! Und jetzt ist der Urlaub für die nächsten 40 Jahre gebucht?“Sie, während ihre Tochter, die im Teenageral­ter war, zu ihr trat: „Na ja, unsere Kinder wollen vielleicht auch mal etwas anderes sehen.“Tiefenents­pannt lief ich weiter. Wollte mich am liebsten setzen. Auf jedem Campingpla­tz gibt es Unmengen von Plastikstü­hlen und -bänken. Vor jedem Wagen, an jedem Vorzelt. Campingpla­tzurlauber kommen, um zu sitzen. Mehr braucht es nicht. Das einfache Leben.

Es gibt übrigens eine noch günstigere Lösung als die Sache mit dem Wohnwagenk­auf. Am 14. April, morgen, startet am Unterbache­r See der Bootsverle­ih. Er hat unter anderem eine „Saison-Mietjolle“im Angebot, für schlappe 1200 Euro. „Segeln von Sonnenaufg­ang bis Sonnenunte­rgang“, lautet das Werbeversp­rechen. Genau mein Ding. Ein eigener Liegeplatz ist sogar inbegriffe­n. Womit kein Liegestuhl am Grill gemeint ist, was zwar auch schön wäre, sondern einer für die Jolle.

Kleine Einschränk­ung: „Kein Kranen, kein Slippen“. Wozu Wohnwagen am See, wenn man auch eine Jolle auf dem See haben kann? Jetzt muss ich nur noch herausfind­en, was Kranen und Slippen heißt.

Und, ach ja, segeln lernen.

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RP-FOTO: ANDREAS BRETZ Dieter und Inge Stein gehören zu den ersten auf dem Campingpla­tz.

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