Rheinische Post Hilden

„Senioren kein größeres Verkehrsri­siko“

- DAS GESPRÄCH FÜHRTE FLORIAN RINKE

Der Verkehrsfo­rscher über eine Zukunft ohne Staus, intelligen­te Ampelschal­tungen und Gebühren für die Straßennut­zung.

BRAUNSCHWE­IG In Niedersach­sen soll auf 280 Kilometern eine Teststreck­e für autonom fahrende Autos entstehen. In Zukunft wollen hier VW, Continenta­l und andere Neuentwick­lungen testen. Maßgeblich beteiligt an der Planung ist Karsten Lemmer, Vorstand für Energie und Verkehr vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt. Was haben denn Autos und Lkws mit Luftund Raumfahrt zu tun? LEMMER (lacht) Auf den ersten Blick nicht viel. Aber bei uns wird seit Langem unheimlich breit geforscht, zum Beispiel zur Aerodynami­k beim ICE. Ob wir in unsere Windkanäle Flugzeuge, Züge oder Autos reinstelle­n, ist eigentlich egal. Abgesehen davon betreiben wir hier schon seit einiger Zeit eine Teststreck­e für städtische­n Verkehr, haben also bereits sehr viel Erfahrung gesammelt. Und was haben Sie über Teststreck­en gelernt? LEMMER Zum Beispiel, dass es manchmal ganz banale Gründe für Probleme gibt: Man hängt im Winter W-Lan-Sender an Masten und wundert sich im Sommer, wie schwach das Signal ist, wenn die Bäume wieder tragen. Oder es kommt zu Ausfällen, weil Nagetiere eine Sorte Kabel besonders schmackhaf­t finden. Inzwischen legen wir deswegen ,Opfer-Kabel’ mit in die Rohre, die keine Funktion bei Messungen haben, aber Tiere von den wichtigen Kabeln fernhalten. Manchmal machen Kleinigkei­ten viel aus. Gilt das auch für Ihr System, mit dem man vier Sekunden weniger an Ampeln wartet? Ganz ehrlich: Das klingt nicht nach viel Zeit. LEMMER Ja. Es sind ja nicht nur Ihre vier Sekunden, die Zahl potenziert sich mit allen Verkehrste­ilnehmern. Gerade in Ballungsrä­umen, wo es viele Kreuzungen gibt, summiert sich das schnell auf zehn bis 15 Stunden Ersparnis pro Tag für alle Verkehrste­ilnehmer. Und am Ende merkt auch der einzelne Fahrer, wenn sich der Weg zur Arbeit um einige Minuten verkürzt. Immerhin sind wir statistisc­h gesehen täglich eine Stunde und 20 Minuten unterwegs. Wie genau funktionie­rt Ihr System? LEMMER Wenn in Zukunft intelligen­te Fahrzeuge und Ampeln vernetzt sind, wissen die Systeme genau, wie viel Wartezeite­n und Stau die jeweiligen Fahrer auf ihrer Strecke schon „angesammel­t“haben. Sie können dann diejenigen bevorzugt durchlasse­n, die bereits besonders lange warten mussten. Gleichzeit­ig lässt sich der Verkehrsfl­uss verbessern, so dass mehr Autos pro Ampelphase eine Kreuzung überqueren können. Das sorgt für einen Qualitätss­prung, ohne dass wir mehr Infrastruk­tur brauchen. Wann werden die autonom fahrenden Fahrzeuge Wirklichke­it sein? LEMMER Eine Automatisi­erung im städtische­n Bereich ist hochkomple­x, das werden wir in den nächsten Jahren nicht sehen. Bei Autobahn-Fahrten ist die Komplexitä­t gering – alle fahren in eine Richtung, es gibt keine Fußgänger, Automatisi­erung wird es bald in Serie geben. Wir werden lange Zeit Mischverke­hr haben, also automatisi­ert und menschlich. Ein Auto, das heute gekauft wird, fährt mindestens die nächsten zehn bis 15 Jahre im Straßenver­kehr. Und dann gibt es natürlich noch die Oldtimer. Was bedeutet das für den Verkehr? LEMMER Wir werden erleben, dass sich die automatisi­erten Fahrzeuge strikt an Regeln halten, etwa bei der Geschwindi­gkeit. In manchen Ländern wird das weniger auffallen, in Deutschlan­d mehr. Wenn hier Tempo 100 ist, fahren die meisten doch eher 120 km/h. Durch die konstanten Geschwindi­gkeiten wird es weniger Stau geben. Wieso das? LEMMER Wir kennen ja alle das Phänomen vom plötzlich auftretend­en Stau: Ein Lkw fährt mit Tempo 80, von hinten nähert sich ein Fahrzeug mit Tempo 140, muss bremsen – und setzt damit eine Kettenreak­tion in Gang. Die Zeit, die man zum Reagieren hat, wenn der Vordermann bremst, wird dabei innerhalb dieser Kette immer kleiner. Es kann also sein, dass es beim 20. Auto knallt, was völlig vermeidbar gewesen wäre – ein Grund für den Stau lag ja nie vor. Das kann man durch Kommunikat­ion verbessern, dann könnten alle Autos synchron bremsen. Wenn alle um acht Uhr zur Arbeit müssen, wird es doch trotzdem voll auf den Straßen. LEMMER Naja, es gibt ja immer mehr Gleitzeitr­egelungen, so dass man etwa zwischen sechs und neun Uhr anfangen kann. Durch Technik können wir das besser ausnutzen. Wenn Menschen wissen, wann es günstig ist zu fahren, könnten sie sich darauf einstellen – und der Verkehr verteilt sich gleichmäßi­ger. Künftig werden intelligen­te Systeme auf unsere Kalender im Smartphone zugreifen und Fahrzeiten vorschlage­n. Man kann auch Verkehrsle­nkungsmaßn­ahmen einführen, also unterschie­dliche Preise festlegen: Wenn viele fahren wollen, würde die Nutzungsge­bühr für die Straße teurer. Wir werden Straßen einfach intelligen­ter nutzen, nehmen Sie die Autobahn A2 . . . . . . die von Oberhausen Richtung Osten führt. LEMMER Wenn es viel geregnet hat, gibt es Streckenab­schnitte, bei denen der Asphalt aufgrund des Standes der Sonne sehr stark blendet. Das erhöht die Unfallgefa­hr. Wenn man diese Zusammenhä­nge durch Datenanaly­sen jedoch erkennt, kann man darauf reagieren – zum Beispiel, in dem man je nach Wetterlage die Geschwindi­gkeit reduziert oder Warnzeiche­n einschalte­t. Was ist noch denkbar? LEMMER Beispiel Kreuzungen: Linksabbie­ger-Unfälle sind dort relativ häufig, weil mehrere Dinge zusammenko­mmen: Die akzeptiert­e Zeitlücke beim Linksabbie­gen verringert sich etwa, je länger ich stehe und je mehr andere Fahrzeuge hinter mir stehen. Am Anfang sind viele Leute vorsichtig­er, wenn sie in die Kreuzung fahren. Der Abstand beim Abbiegen zu einem entgegenko­mmenden Auto ist größer. Der Fahrer sagt: „Da biege ich lieber nicht ab, das ist mir zu knapp“? LEMMER Genau, unsere Risikobere­itschaft nimmt zu, je länger wir stehen und je mehr von hinten gedrängelt wird. Viele Menschen lassen sich davon beeinfluss­en – die Technik würde das nicht tun. Und statistisc­h gesehen passieren viele tödliche Unfälle im innerstädt­ischen Bereich, wenn die Kombinatio­n Radfahrer und Lkw aufeinande­r trifft. Wer dieses Duell gewinnt, ist klar – und der Verlierer zahlt häufig mit dem Leben. Und wie lassen sich diese Unfälle durch digitale Technik verhindern? LEMMER Das Problem ist zum Beispiel, dass der Radfahrer je nach Geschwindi­gkeit über einen längeren Zeitraum im toten Winkel des Lkw-Fahrers ist. Die Lösung kann sein, dass ein Radfahrer künftig per Smartphone den Lkw-Fahrer über seine Position informiert. Möglich wäre auch, dass Kinder einen Sensor im Schulranze­n verbaut hätten, der Autofahrer warnt. Kann Technik nicht auch zur Gefahr werden, wenn der Einzelne künftig viel seltener fährt? LEMMER Ja, wenn man ganz selten manuell fährt, ist man weniger trainiert. Da gibt es Parallelen zur Luftfahrt: Auch da gibt es Systeme, mit denen man automatisc­h starten, landen und fliegen kann. Piloten üben daher regelmäßig im Flugsimula­tor, um in kritischen Situatione­n richtig zu reagieren. Braucht es einen Simulator für Autofahrer? LEMMER Das nicht. Aber man könnte dem Fahrer ja zum Beispiel eine Rückmeldun­g geben: Um deine Kompetenze­n nicht zu verlieren, solltest du heute mal wieder selbst fahren. Ähnlich ist das ja heute bei Menschen, die einen Führersche­in haben und lange nicht gefahren sind – auch die nehmen ja oft noch mal ein paar Fahrstunde­n, um die Sicherheit wieder zurückzuge­winnen. Sind Senioren ein größeres Risiko im Verkehr? LEMMER Generell nicht, weil Senioren einerseits meistens relativ viel Erfahrung haben. Und anderersei­ts wissen sie oft sehr gut, was sie sich noch zutrauen können. Das kann bedeuten, dass sie weniger Fahrbahnwe­chsel machen, weil die Halsmuskul­atur den Schulterbl­ick nicht mehr so sehr zulässt. Statistisc­h sieht man, dass jüngere Fahrer, die kurze Zeit den Führersche­in haben, häufiger in Unfälle verwickelt sind.

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FOTO: DLR Verkehrsfo­rscher Karsten Lemmer

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