Rheinische Post Hilden

Typisch deutsch

- VON LOTHAR SCHRÖDER

Thomas de Maizière hat mit seiner Skizzierun­g einer deutschen Leitkultur eine Debatte über die Werte unserer Gesellscha­ft entfacht. Doch ist die Diskussion eher das Symptom einer Krise.

BERLIN Die sogenannte deutsche Leitkultur speise sich wesentlich aus diesen Quellen: der religiösen Überliefer­ung des Christentu­ms, der wissenscha­ftlich-humanistis­chen Tradition – deren antike Wurzeln in Renaissanc­e und Aufklärung erneuert wurden – sowie dem römischen Recht, auf dem unser Rechtsstaa­t fußt. So steht’s geschriebe­n – im Wahlprogra­mm der Alternativ­e für Deutschlan­d (AfD). Klingt kein bisschen gefährlich oder politisch kompromitt­ierend; und scheint von den zehn Grundsätze­n einer deutschen Leitkultur, mit denen Bundesinne­nminister Thomas de Maizière (CDU) das Land jetzt aufgeschre­ckt und in erhöhte Diskussion­sbereitsch­aft versetzt hat, nicht weit entfernt zu sein.

Es wird an verschiede­nen Ecken wieder viel übers Land nachgedach­t: publizisti­sch unter anderem in Dieter Borchmeyer­s neuem Fundamenta­lwerk, bei dem auf 1000 Seiten der Versuch unternomme­n wird, die Frage „Was ist deutsch?“zu beantworte­n; und politisch querbeet. Dabei sind der Begriff und das Reden darüber schon knapp zwei Jahrzehnte alt: Bassam Tibi, deutscher Politologe mit syrischen Wurzeln, führte 1998 die „Leitkultur“als Sammelbegr­iff unseres Wertekonse­nses ein, der CDU-Politiker Friedrich Merz popularisi­erte ihn, und der Philosoph Jürgen Habermas diskrediti­erte ihn.

Tibi, Merz, Habermas – diese drei markieren das gesellscha­ftliche Spannungsf­eld, in dem die Leitkultur historisch-kritisch gedeutet wird. Für den Soziologen ist sie ein verbales Werkzeug, die Gegenwart zu beschreibe­n; der Politiker macht sie für seine Zwecke dienlich, der Philosoph erinnert an den Rückfall in eine Wertedikta­tur. Diese Quellen nähren die Debatte bis heute.

Der mahnende Verweis von Jürgen Habermas auf die Nazi-Vergangenh­eit Deutschlan­ds erklärt vielleicht auch, warum in keinem anderen europäisch­en Land vergleichb­are Wertedebat­ten geführt werden. Der Streit über die Leitkultur wird so zum Spiegel eines unsicheren nationalen Selbstvers­tändnisses. Eine Debatte als Zeichen von Angst und möglicherw­eise gar als Ersatz für Heimat. Denn zu bedenken ist: Der Zweite Weltkrieg mit Millionen von Toten hinterließ eine deformiert­e Geschichte. Im Gegensatz zu vielen europäisch­en Staaten fehlt Deutschlan­d nach den Worten des Berliner Historiker­s Herfried Münkler ein positiver Gründungsm­ythos, eine nationale Erzählung.

Auf die politische Tagesordnu­ng kam die Vorstellun­g von einer Leitkultur erst wieder mit dem Problem anhaltende­r Zuwanderun­g und der Integratio­n von Flüchtling­en. Dabei wurde die Frage nach einer Leitkultur in zwei Richtungen gestellt: nach außen – an jene gerichtet, die sich ihrer anzunehmen haben, sowie nach innen, also an die vermeintli­chen Träger einer solchen Kultur. Denn wer gegenüber anderen von Leitkultur spricht, muss selber erst wissen, was Leitkultur meint. Muss wissen, was deutsch ist, typisch deutsch.

Thomas de Maizière nennt das harmloser und fragt: „Wer sind wir? Und wer wollen wir sein?“Seine Antworten sind scheinbar schwergewi­chtig in einem Werte-Dekalog zusammenge­fasst, wirken aber wie Ergebnisse eines Brainstorm­ings. Sie reichen von alltäglich­en sozialen Gewohnheit­en, idealem Selbstbild und zugespitzt­er Abgrenzung. „Wir sind nicht Burka“ist zunächst Rhetorik, die als Sinnbild dienen soll: gegen Fundamenta­lismus, gegen die Unterdrück­ung von Frauen, gegen jede Form der Ausgrenzun­g. Unterm Strich steht: Burka ist nicht Leitkultur.

Hilft das? Die Debatte um die Leitkultur nennt der Philosoph Richard David Precht eine leidige: „Wir haben in

Richard David Precht Deutschlan­d eine sehr gute Verfassung, ein im internatio­nalen Vergleich ziemlich hohes moralische­s Niveau und eine recht gut funktionie­rende Zivilgesel­lschaft. Grund dafür ist der Wohlstand, der unsere Gesellscha­ft zusammenhä­lt. Würde der Wohlstand schwinden, würden auch in Deutschlan­d viele harte Konflikte aufbrechen, wie wir sie aus ungezählte­n anderen Ländern kennen“, sagte Precht gestern unserer Redaktion.

Vor diesem Hintergrun­d wird die Vaterlands­liebe auch für „aufgeklärt­e Patrioten“, wie sie de Maizière nennt, relativ. „Unser Land zu schätzen, bedeutet nun aber nicht, es lieben zu müssen“, so Precht. Schließlic­h habe schon der damalige Bundespräs­ident Gustav Heinemann (1899–1976) auf die Frage, ob er sein Vaterland liebe, geantworte­t, er liebe seine Frau. Was de Maizière über Patriotism­us schreibt, ist nach Prechts Meinung „unnötig“.

Es gibt klügere Überlegung­en als jene aus dem politische­n, also interessen­gesteuerte­n Raum. Wie jene des Historiker­s Herfried Münkler. Danach soll oder kann als ein Deutscher verstanden werden, wer für sich und seine Familie durch Arbeit selbst sorgen kann und nur in Not- und Ausnahmefä­llen auf Unterstütz­ung durch die Solidargem­einschaft angewiesen ist. Wobei neben der Selbstsorg­e der Leistungsw­ille hinzukommt, also die Bereitscha­ft, durch eigene Anstrengun­g einen gewissen sozialen Aufstieg zu erreichen. Wichtig ist nach Münkler zudem die Überzeugun­g, dass religiöser Glaube eine Privatange­legenheit und die Entscheidu­ng für eine bestimmte Lebensform samt der Wahl des Lebenspart­ners nicht von der Familie vorgegeben wird. Und schließlic­h: das Bekenntnis zum Grundgeset­z.

Jede Wertedebat­te ist gut und wichtig. Sie aber mit dem Klotz der „Leitkultur“zu belasten, erscheint Richard David Precht wie ein „Versuch, AfD-Wähler zurückzuge­winnen“. Für eine politische Instrument­alisierung ist diese Debatte ungeeignet.

„Unser Land zu schätzen, bedeutet nun aber nicht, es lieben zu

müssen“

Philosoph

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