Abschied von Gomorrha
Francesco Verde lebte als Gangster in Scampia, einem berüchtigten Viertel von Neapel. Sein Leben änderte sich, als die Camorra seine Schwester ermordete.
sen will. Breite Straßen, farblose Wohnklötze, Armut, Müll, Zerstörung. Schätzungsweise 80.000 Menschen wohnen hier, etwa so viele wie in Ingolstadt, Wolfsburg oder Ulm. Genau weiß das niemand, denn die Hälfte von ihnen ist nicht gemeldet und damit unerreichbar für den Staat. Städtische Kindergärten gibt es nicht, dafür aber Gewalt und massenweise Drogen.
Francesco Verde sitzt auf einem Stuhl vor einer ehemaligen Schule. Als der Krieg der verfeindeten Mafia-Clans 2005 seinen Höhepunkt erreichte, machte die Schule dicht. Niemand wollte noch seine Kinder hierher schicken, wenn beinahe täglich Menschen auf offener Straße erschossen wurden. Die Schule diente als Waffenlager der Killer und als Treffpunkt für abgehalfterte Junkies. Heute hat hier die „Kulturfabrik Gelsomina Verde“ihren Sitz. Das nach Francesco Verdes Schwester benannte Kulturzentrum soll einer der Orte der Hoffnung im Elend sein, das sich langsam zu verflüchtigen scheint.
Viele Bosse sitzen inzwischen im Gefängnis, der Rauschgifthandel ist im Vergleich zu früher überschaubarer geworden. Polizei und Justiz haben durchgegriffen. Das ist zumindest die Innenansicht auf Scampia, der eine Gruppe von Aktivisten zum Durchbruch verhelfen will. Verde, der ehemalige Gangster, gehört zu ihnen, als eine Art lebendiger Beweis dafür, dass auch aus der Sackgasse ein Weg in eine bessere Welt führen kann.
Es ist ein Weg voller Widersprüche. Drei von vier der berüchtigten Vele-Hochhäuser sollen ab dem Sommer abgerissen werden, als könne man so auch soziale Probleme lösen. Immer noch wohnen Dutzende Familien in den Ruinen. Einen Widerspruch könnte man auch darin erkennen, dass Francesco Verde als Nebendarsteller in der seit 2014 laufenden TV-Serie „Gomorrha“auftritt. Er spielt einen gnadenlosen Killer, obwohl er doch die Haut des zur Kriminalität Verdammten abstreifen will. Aber Verde ist stolz. Er ist Schauspieler, er hat es geschafft.
Ciro Corona, ein grimmiger Sozialarbeiter, aber zugleich so etwas wie die Seele des anderen Scampia, koordiniert die zwölf Vereine in der Kulturfabrik, in der unter anderem eine Musikschule, eine Theatergruppe, eine Schreinerei und
Francesco Verde eine Schmiede zu Hause sind. In den Werkstätten können ehemalige Häftlinge ein Handwerk lernen, es gibt kostenlose Rechtsberatung. „Man muss Alternativen schaffen“, sagt Corona, „sonst landen früher oder später alle beim Dealen.“31 Häftlinge haben in den vergangenen zwei Jahren in der Kulturfabrik gearbeitet, neun von ihnen haben heute einen Arbeitsvertrag.
Dann ist da noch Daniele Sanzone, Sänger der Band A67, die von der Wirklichkeit und den Träumen im Viertel singt, es aber nicht nur auf Poesie beruhen lassen möchte. „Wir wollen Scampia mit dem Blick derjenigen erzählen, die hier geboren und geblieben sind“, sagt Sanzone. Es ist der Versuch, dem weltbekannten und einträglichen Bild von Scampia als Sodom und Gomorrha eine andere Realität entgegenzustellen. Sanzone und Corona sammelten Geschichten, die Mut machen. Daraus wurde ein Theaterstück, in dem auch Francesco Verde auftritt. Und aus dem Theaterstück wurde eine regelrechte Stadtrundfahrt zu den Orten, an denen sich das Viertel zu verändern beginnt.
Was aber tun, um den zerbrechlichen Wandel zu verfestigen? Diese Frage haben sich auch die Frauen von Chikù gestellt, des einzigen und seit bald zwei Jahren geöffneten Restaurants in Scampia. Neapolita- nerinnen und Roma-Frauen kochen und servieren hier zusammen. Das Problem ist auch hier, den Übergang von einer guten Idee zu einem wirtschaftlich tragfähigen Unternehmen zu schaffen. Obwohl Chikù direkt über dem Polizeirevier von Scampia liegt, verwüsteten Unbekannte erst vor ein paar Wochen nachts die Einrichtung und nahmen Teile des Inventars mit.
Wäre dieser Vorfall vor 15 Jahren passiert, hätte Francesco Verde einer der Täter sein können. Es war im Herbst 2002, als er seine letzte Haftstrafe verbüßte, 14 Monate wegen versuchten Diebstahls. Auch seine Schwester besuchte ihn damals im Gefängnis. In ihrer Freizeit half Gelsomina den Kindern von inhaftierten Vätern bei den Hausaufgaben. Der Anblick ihres immer tiefer sinkenden Bruders setzte ihr zu. Im letzten Brief, den er von ihr erhielt, stand: „Du bist der Mensch, der mich am meisten verletzt hat.“
Wenig später schlug die Camorra zu. Die Killer verlangten von Gelsomina Verde die Herausgabe eines Fotos ihres Ex-Freundes, der sich einem verfeindeten Clan angeschlossen und sich versteckt hatte. Die 22Jährige, die nichts mit der Kriminalität zu tun hatte und schon damals an ein besseres Scampia glaubte, weigerte sich und musste deshalb sterben. Es war der 21. November 2004, als die Täter ihr erst Finger und Zehen brachen, bevor sie sie erschossen und das Auto mit ihrem Körper in Brand steckten. Francesco muss schlucken bei der Schilderung. Er selbst war es gewesen, der zweien der Mörder zuvor beigebracht hatte, wie man Raubüberfälle begeht. „Mina musste sterben, weil sie sich der Mentalität der Camorra widersetzt hat“, sagt Verde. Den Mut und die Ideale seiner Schwester weiterzutragen, sei das Mindeste, was er ihr schuldig sei.
„Mina musste sterben,
weil sie sich der Mentalität der Camorra
widersetzt hat“