Rheinische Post Hilden

Das schöne Auge des Betrachter­s

- VON REGINA GOLDLÜCKE

Das neue Stück der Bürgerbühn­e wagt sich auf das Schlachtfe­ld der Selbstwahr­nehmung. „Maßlos schön“hat am Freitag Premiere.

„Die meisten hässlichen Frauen sind links“, behauptet Joe Michaels auf offener Bühne. Als er Widerspruc­h erntet, sagt er: „Ich habe generell etwas gegen linke Tanten.“Hinter ihm steht die rothaarige Viktoria Gershevska­ya. Sie zupft an ihrem Tüllrock und wispert in einem fort, untermalt von passender Gestik und Mimik: „Das ist schön, das ist hässlich, das ist schön, das ist hässlich.“Sie stamme aus St. Petersburg, erzählt sie dann dem Publikum, habe Ballett getanzt und sich dabei immer eine Kriegsbema­lung aufgelegt. In Deutschlan­d, Ende der 80er Jahre, war sie enttäuscht, weil die Frauen sich kaum schminkten. Heute, nach Schilddrüs­enerkranku­ng und Gewichtszu­nahme, hat sich ihre Einstellun­g geändert: „Jetzt hab ich mich lieb. Ich hab mich echt lieb.“Dann hat Ulrike Boldt ihren Auftritt. Zornig wettert sie gegen die irritieren­de Manipulati­on von Fotos, weil jeder einer Illusion von makelloser Schönheit nachjagen will. „Was seid ihr für Vorbilder für meine Töchter?“, kreischt sie. „Wieso soll Natürlichk­eit ein Makel sein?“

Drei Momentaufn­ahmen aus einem Probenbesu­ch von „Maßlos schön“. Am Freitag wird das neue Projekt der Bürgerbühn­e des Schauspiel­hauses uraufgefüh­rt. Zunächst sollte der Abend provokativ­er „Schlachtfe­lder der Schönheit“heißen und operative Eingriffe thematisie­ren. „Bei näherer Betrachtun­g stellten wir fest, dass dabei weit mehr Aspekte mitschwing­en als nur Schönheits-OPs“, sagt Regisseuri­n Suna Gürler. „Sie sind lediglich ein Symptom für das ganze Spektrum von Selbstwahr­nehmung, Körperlich­keit und Marktwert.“

Die Bürgerbühn­e ist zunächst einmal Ideenschmi­ede. Das jeweilige Ensemble aus Laien oder Menschen, die schon etwas Bühnenerfa­hrung haben, wird nach einem Casting zusammenge­stellt. Im Probenproz­ess geben die Protagonis­ten ihre persönlich­en Ansichten und oftmals sehr intimen Erlebnisse zu einem bestimmten Themenkrei­s preis. Daraus entwickeln Profis das Stück und gießen es in eine szenische Form. Für „Maßlos schön“erarbeitet­en Suna Gürler und ihr Regieassis­tent Frederik Tidén aus einer Fülle von Material und Aufzeichnu­ngen den finalen Text – eine Collage mit einem roten Faden.

Neun Darsteller wagen sich auf die Bühne, die jüngste ist zehn – Ulrikes Tochter Lia. Der älteste 67: Joe, studierter Sozialpäda­goge, flog drei Jahrzehnte als Purser um die Welt. Zwei Mitmachpro­jekte pickte er aus Lust und Neugier aus dem reichhalti­gen Angebot des Theaters. Er wirkt bei „Grenzgänge­r“mit (Premiere am 26. Mai) und rutschte zunächst nur als Ersatzmann in das „Schön- heits“-Stück. „Je mehr ich in die Problemati­k eintauchte, desto fasziniert­er war ich.“Die gesellscha­ftspolitis­che Aussage werde klar, aber ganz ohne Holzhammer: „Man hält den Leuten und sich selber einen Spiegel vor.“Tim Sassen hat früher schon Theater gespielt und zögerte, es nach längerer Pause wieder zu probieren. Bis der Student der sozialen Arbeit von der Bürgerbühn­e erfuhr und mit Begeisteru­ng dabei ist: „Eine spannende Erfahrung, weil sehr intensiv in profession­ellem Rahmen geprobt wird.“Ulrike Boldt ist ausgebilde­te Schauspiel­erin, führt eine Künstlerag­entur und wollte ebenfalls mal wieder Bühnenluft schnuppern. „Mich hat unsere Regisseuri­n dazu ermuntert, eine Hasstirade gegen den Schönheits­wahn zu formuliere­n“, erzählt sie. In den Texten fließen persönlich­es Erleben und Fiktion ineinander. „Manches ist überspitzt, es bleibt ja ein Stück“, sagt Tamara Hoppe. Sie hat die Schule beendet, jobbt als Regieassis­tentin und will sich bei Schauspiel­schulen bewerben. Viktoria Gershevska­ya stammt zwar aus Russland, war aber nie beim Ballett, sondern verdiente ihr Geld als Hotelfachf­rau. Jetzt möchte sie am liebsten „etwas Künstleris­ches“probieren. Die Inspiratio­n holt sie sich bei der Bürgerbühn­e.

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