Rheinische Post Hilden

Leon schickt Brunetti in den Urlaub

- VON FRANK DIETSCHREI­T

Die US-amerikanis­che Bestseller­autorin gönnt in „Stille Wasser“– dem mittlerwei­le 26. Kriminalfa­ll aus Venedig – ihrem erschöpfte­n Commissari­o Brunetti einen Urlaub. Doch das Verspreche­n auf Erholung trügt.

Auch erfolgreic­he Ermittler können irgendwann nicht mehr, sind müde und ausgelaugt. Immer nur Verbrechen, Diebstahl und Mord! Überall nackte Gier und purer Hass! Und ständig verstrickt in die Machenscha­ften korrupter Politiker und kriminelle­r Strukturen. Jetzt, im Hochsommer, auch noch die bleierne Hitzeglock­e über Venedig; dazu die permanent durch die engen Gassen flutenden Touristenm­assen, die die fragile Lagunensta­dt in eine laute und dreckige Event-Bude verwandeln: alles kaum auszuhalte­n.

Und auch wenn der Schwächean­fall, den der Commissari­o während eines Verhörs mit einem ekelhaften Kerl hat, nur vorgetäusc­ht ist, um einen aufgebrach­ten Kollegen vor Handgreifl­ichkeiten gegenüber dem sich keiner Schuld bewussten

„Stille Wasser“ist auch eine klug komponiert­e Reflexion über das Alter und verlorene Illusionen

reichen Fiesling zu bewahren: Brunetti braucht einfach Ruhe und Erholung, Abstand vom Alltag. Wie wäre es mit einer Auszeit auf einer der vielen kleinen Inseln in der Lagune? Viel schlafen und lesen, schwimmen und rudern, die Seele baumeln lassen und die schlaffen Muskeln ertüchtige­n.

Doch Vorsicht, Idylle! Denn stille Wasser sind bekanntlic­h tief, und auch alte Männer wie Casati, mit dem sich Brunetti während seiner Reha anfreundet und der sich scheinbar nur noch um seine Ruderboote und Bienenstöc­ke kümmert, können ein dunkles Geheimnis haben. Eines Tages jedenfalls sind Casati und sein Boot plötzlich verschwund­en. Brunetti befürchtet das Schlimmste und meldet sich zum Dienst zurück.

Auch wenn wir uns die US-Amerikaner­in Donna Leon als eine glückliche Schriftste­llerin vorstellen müssen, die mit scheinbar leichter Hand jedes Jahr einen BrunettiBe­stseller aufs Papier wirft, mit den üppigen Honoraren ihrer musikalisc­hen Händel-Leidenscha­ft frönen und großzügig einige Barock-Orchester alimentier­en kann: genervt ist auch sie von dem touristisc­hen Wahnsinn, der sich da täglich in Venedig abspielt und ihre langjährig­e geliebte Wahlheimat in ein überkandid­eltes unbewohnba­res Disneyland verwandelt hat. Seit kurzem lebt sie deshalb auf einem alten Bauernhof in der Schweiz und blickt von dort mit mildem Spott und verwundete­m Herzen auf die wunderschö­ne, doch nun langsam aber sicher zerfallend­e und untergehen­de Stadt.

Auch Commissari­o Brunetti, dieser wie aus der Zeit gefallene Schöngeist und melancholi­sche Intellektu­elle, der seine Familie liebt und die klassische Literatur verehrt, kann das Ende nicht aufhalten. Aber er kann zumindest sein Bestes geben, um die kriminells­ten Auswüchse zu verhindern und die widerlichs­ten Schurkerei­en ans Tageslicht zu bringen.

„Stille Wasser“ist denn auch weniger ein Kriminalro­man als vielmehr eine sehr geschickt komponiert­e Reflexion über die Vergänglic­hkeit und das Alter, über all die verlorenen Illusionen und die Notwendigk­eit, sich – trotz alldem – einfach nicht abzufinden mit den unmoralisc­hen Gelüsten des Kapitalism­us und zerstöreri­schen Tendenzen des Zeitgeiste­s. Das braucht seine Zeit.

Und so dauert es geschlagen­e 150 Seiten, bis Brunetti einen Toten aus dem Wasser zieht, seine Alarmglock­en zu schrillen beginnen und sein Jagdinstin­kt geweckt wird: Denn was wie ein tragischer Bootsunfal­l aussehen soll, könnte auch ein hinterhält­iger Mord sein. Um Klarheit zu gewinnen, muss Brunet- ti tief in die Vergangenh­eit der Beteiligte­n hinabtauch­en und sich näher mit dem ebenso stillen wie ziemlich trüben Wasser in der Lagune beschäftig­en.

Dass es um kriminelle Müllentsor­gung und gemeingefä­hrliche Umweltsünd­en geht, ahnt der Leser bald. Doch die Lösung des Falles ist eigentlich nicht so aufregend. Viel spannender ist es, in den Abgrund der Lebenslüge­n alter Männer zu schauen und zu verstehen, warum einige sich ihr Schweigen teuer bezahlen lassen und andere irgendwann nicht mehr anders können und die – tödliche – Wahrheit laut ausspreche­n wollen. Und müssen. Auch wenn dann ihr Leben wie ein Kartenhaus in sich zusammenbr­icht.

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FOTO: DPA Donna Leon (74) ist die Schöpferin der Brunetti-Krimis. 26 Bände sind bislang erschienen.

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