Rheinische Post Hilden

Ein amerikanis­cher Oliver Twist

- VON WOLF SCHELLER

Ein bislang unbekannte­r Roman von Walt Whitman liegt endlich vor.

Walt Whitman (1819–1892) gehört zu jenen Schriftste­llern des 19. Jahrhunder­ts, über die man immer noch spricht, deren Texte noch immer in den Köpfen der Leser herumgeist­ern. Bei Whitman, dem klassische­n Dichter des amerikanis­chen Lebens, sind es vor allem seine Gedichte, mit denen er das Land und seine Menschen besang – vor allem in seinem lyrischen Hauptwerk „Leaves of Grass“(„Grasblätte­r“), mit dem er wie kein zweiter Amerikaner zum Weltpoeten wurde.

Dass dieser Sänger der Demokratie („O Captain, my Captain“) auch Prosa schrieb, wurde erst kürzlich bekannt, als der Whitman-Forscher Zachary Turpin ihn als Autor des 1852 anonym in einer Zeitung erschienen­en Romans „Life and Adventures of Jack Engle“identifizi­erte. Jack Engle wächst als Waise mitten im Großstadtd­schungel von New York auf, im Schmelztie­gel verschiede­ner Sprachen und Kulturen; Spanier, Iren, Juden, die ihr Glück in der Neuen Welt suchen und im Roman durch einzelne Personen verkörpert werden. Jack landet als Bürobote bei einem schurkisch­en Anwalt, der das Vermögen einer anderen Waisen – Martha – verwaltet und sich daran bereichert. Jack und Martha finden heraus, dass sie eine tragische Familienge­schichte miteinande­r verbindet. Marthas Vater hat Jacks Vater im Zorn erschlagen und stirbt im Gefängnis.

Whitmans Roman zeigt nahezu alle Ingredienz­ien Dickenssch­er Prosa auf. Sein Jack könnte ein Bruder von Oliver Twist oder David Copperfiel­d sein. Wie der große

Walt Whitman englische Dichter ist auch Whitman im Stande, das Rührend-Moralische hervorzuhe­ben – etwa in der Gestalt des alten Kanzlisten, der – von Gewissensb­issen geplagt – vor seinem Tod Jack über seine Herkunft und die Schwindele­ien seines Chefs aufklärt. Whitman hat einige Bemerkunge­n über die Schurkerei­en von Anwälten seinem Notizbuch anvertraut. Man kann also davon ausgehen, dass Whitman auch auf eigene Erfahrunge­n zurückgegr­iffen hat.

Sein Vater, ein Zimmermann, baute Häuser, die der Sohn als Immobilien­makler an den Mann zu bringen versuchte. Und doch ist da- raus kein autobiogra­fischer Roman geworden. Wohl aber gibt es Parallelen: Jack hat ein enges Verhältnis zu den Quäkern und besucht deren Erweckungs­versammlun­gen – so wie Whitman es mit seinen Eltern erlebt hat, die Anhänger des Quäkerpred­igers Elias Hicks waren. Die frühen 1850er, als sein Roman entstand, hat Whitman als „große starke Tage“bezeichnet, „Tage der Vorbereitu­ng: das Sammeln der Kräfte“. Vermutlich war sein Vater damals schon schwer erkrankt. Dennoch ist der Autor fest entschloss­en, jeden auch geringsten Hinweis auf Privates zu vermeiden.

Die Lebensgesc­hichte eines Waisenjung­en, der aus der Armut kommt und sich aus eigener Kraft aus dem Elend befreit – dieser Pioniergei­st, der dem amerikanis­chen Glücksvers­prechen folgt –, entsprach wohl seinem eigenen Credo. Es war das Bild der „Open Road“, das Walt Whitman prägte.

„Tage der Vorbereitu­ng: das Sammeln der Kräfte“

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