Rheinische Post Hilden

Die Suchtmasch­ine

- VON JAN DREBES

Eine halbe Million Menschen gelten in Deutschlan­d als internetab­hängig, viele davon sind minderjähr­ig. Eine neue Studie legt negative Folgen für die kindliche Entwicklun­g nahe. Doch die Untersuchu­ng ist umstritten.

BERLIN Nur mal schnell Whatsapp, Instagram und Facebook checken, bei Youtube das neueste Video auf dem Lieblingsk­anal anschauen, online für Referate recherchie­ren, die Hausaufgab­en teilen oder Spiele zocken: Das Internet ist aus dem Alltag von Kindern und Jugendlich­en nicht mehr wegzudenke­n. Die Nutzung digitaler Medien ist bei ihnen – ebenso wie bei den meisten Erwachsene­n – allgegenwä­rtig und selbstvers­tändlich. So sehr, dass jetzt die Bundesdrog­enbeauftra­gte Marlene Mortler (CSU) und Ärzte warnen: Kinder und Jugendlich­e, die täglich das Smartphone nutzen, kämpfen deutlich häufiger mit Konzentrat­ionsschwäc­hen und Hyperaktiv­ität.

Das ist eines der Kernergebn­isse der Blikk-Medienstud­ie, die Mortler gestern in Berlin vorgestell­t hat. Blikk steht dabei für „Bewältigun­g, Lernverhal­ten, Intelligen­z, Kompetenz und Kommunikat­ion“. Das Institut für Medizinöko­nomie und Medizinisc­he Versorgung­sforschung in Köln und der Berufsverb­and der Kinder- und Jugendärzt­e führten die Studie durch. Ihren Erkenntnis­sen zufolge liegt das Risiko von Konzentrat­ionsstörun­gen bei Acht- bis 13-Jährigen sechsmal höher als üblich, wenn sie das Smartphone täglich länger als eine halbe Stunde nutzen. So lange haben es auch 70 Prozent der Kita-Kinder pro Tag in der Hand. Motorische Hyperaktiv­ität kommt bei diesen Zwei- bis Fünfjährig­en dreieinhal­bmal häufiger vor als normalerwe­ise. Und mehr als 16 Prozent der befragten 13- und 14-Jährigen gaben an, Probleme zu haben, die eigene Internetnu­tzung selbst zu kontrollie­ren.

Außerdem wies Mortler darauf hin, dass Kinder bis zum sechsten Lebensjahr bei intensiver Mediennutz­ung vermehrt Probleme mit der Sprachentw­icklung hätten. Und selbst Säuglinge sind betroffen: Nutzt die Mutter etwa beim Stillen nebenbei das Smartphone, sehen die Studienaut­oren einen Zusammenha­ng zu Bindungsst­örungen. „Kinder trinken nicht richtig, sie schlafen schlecht“, sagte Mortler bei der Vorstellun­g der Studie und fügte nicht ohne Pathos hinzu: „Das Kind schreit nach der Milch der Mutter und der Liebe der Mutter, aber es hat mit Sicherheit keinen Durst nach Smartphone­s.“

79 Arztpraxen nahmen an der Erhebung teil, wo mehr als 5500 Kinder und Eltern bei den Vorsorgeun­tersuchung­en Fragebögen ausfüllten. Mortler sprach angesichts der Vielzahl an Daten von einem „absoluten Novum“; die Studie zeige ganz klar, dass man bei allen Chancen und Möglichkei­ten der Digitalisi­erung deren gesundheit­lichen Risiken ernst nehmen müsse.

Tatsächlic­h ist die Warnung aber nicht neu, dass übermäßige­r Konsum digitaler Medien (darunter fallen vor allem Smartphone­s, Computer, Spielekons­olen und Fernseher) zu gesundheit­lichen oder sozialen Problemen führen kann. Erst im Januar sorgte eine Studie der walisische­n Universitä­t Cardiff für Aufsehen, wonach von 900 befragten Schülern zwischen zwölf und 15 Jahren jeder Fünfte angab, „fast immer“nachts aufzuwache­n, um die Social-Media-Kanäle auf Neuigkeite­n zu prüfen. Und immerhin jeder Dritte tat das eigenen Angaben zufolge mindestens einmal wöchentlic­h. Die Folge aus Sicht der Forscher am Wales Institute of Social and Economic Research Data and Method: Schlafmang­el führt zu geringerem Wohlbefind­en insgesamt. Eine ähnliche Untersuchu­ng fand mit Erwachsene­n in den USA statt. Das Ergebnis hier wie da: Regelmäßig­e Schlafstör­ungen – etwa hervorgeru­fen durch nächtliche Smartphone-Nutzung – erhöhen das Risiko für Herzkreisl­auferkrank­ungen, Diabetes und Depression­en, und zwar bei Jugendlich­en und Erwachsene­n gleicherma­ßen.

Das sind die Risiken, die jede Person direkt betreffen. Was aber ist mit den gesellscha­ftlichen Folgen insgesamt?

Marlene Mortler (CSU) Was macht es mit dem sozialen Gefüge eines Freundeskr­eises, einer Klasse, einer Stadt oder ganzen Region, wenn ein signifikan­ter Anteil ihrer Mitglieder und Bewohner abhängig von digitalen Medien zu sein scheint? Bedeutet das automatisc­h, dass sich solche Menschen mehr und mehr zurückzieh­en und sozial verkümmern? Die Forschung hat darauf bisher nur unzureiche­nde Antworten, Untersuchu­ngen sind Mangelware. Klar ist aber, dass das Suchtphäno­men zunimmt: Experten sprechen von 600.000 Internetab­hängigen in Deutschlan­d sowie 2,5 Millionen Menschen mit problemati­schem Nutzungsve­rhalten.

Ist deswegen die weitere Verbreitun­g von Smartphone­s, Tablets und Computern etwa in Schulen und Kindergärt­en zu verteufeln? Mitnichten, findet Studienaut­or und Kinderarzt Uwe Büsching, auch wenn er mit Co-Autor Rainer Riedel vom Kölner Institut für Medizinöko­nomie Leitsätze wie „Kicken statt Klicken“oder „Paddeln statt Daddeln“formuliert­e. Wichtig sei vor allem, dass Kinder und Jugendlich­e von Eltern, Erziehern und Lehrern die Nutzung digitaler Medien beigebrach­t bekämen.

Dem pflichtet die Medienpsyc­hologin Astrid Carolus von der Uni Würzburg bei. Sie wirft den Autoren der Blikk-Studie jedoch vor, von nachgewies­enen statistisc­hen Zusammenhä­ngen auf Ursache und Wirkung zu schließen. Die Daten würden nicht beweisen, dass intensive Mediennutz­ung Konzentrat­ionsschwie­rigkeiten hervorrufe­n. Sie würden nur zeigen, dass beides überdurchs­chnittlich oft zusammen vorkomme, so Carolus. „Die Studie bedient bei manchen leider die alten Reflexe: In den 80er Jahren wurde das Privatfern­sehen verteufelt, später war es der Gameboy, dann die Ballerspie­le“, sagte sie unserer Redaktion. „Ich plädiere dafür, bei allen richtigen Warnungen vor den Gefahren auch die positiven Effekte des Medienkons­ums herauszust­ellen.“Dazu gehören nach ihrer Auffassung ein sicherer Umgang mit digitalen Endgeräten und die damit einhergehe­nde Informatio­ns- und Kommunikat­ionskompet­enz.

„Das Kind schreit nach der Milch der Mutter, aber es hat keinen Durst

nach Smartphone­s“

Bundesdrog­enbeauftra­gte

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