Rheinische Post Hilden

Das bedeutet die Wahl für den Brexit

- VON THOMAS MARON UND MARKUS GRABITZ

LONDON Die Glückwunsc­h-Telegramme vom Kontinent an die kräftig gerupfte britische Premiermin­isterin Theresa May fielen spärlich aus. Hinter diplomatis­chen Floskeln verbirgt sich die Sorge, dass die Brexit-Verhandlun­gen nun noch schwierige­r werden. Regiert in Brüssel die Schadenfre­ude? Nein, nicht einmal hinter vorgehalte­ner Hand machen sich Parlamenta­rier und Mitarbeite­r der EU-Institutio­nen über das Desaster lustig. Brüssel befürchtet viel mehr Verzögerun­gen bei den Verhandlun­gen. Eigentlich sollte die erste Runde am 19. Juni starten. Doch angesichts der innenpolit­isch unsicheren Lage in London hat man in Brüssel diesen Termin inoffiziel­l abgeschrie­ben. Es wird nicht ausgeschlo­ssen, dass May bald von innerparte­ilichen Widersache­rn gestürzt wird. Die Regierungs­bildung wird schwierig und wird Zeit kosten. Der deutsche EU-Kommissar Günther Oettinger (CDU) äußert Zweifel daran, dass London schnell verhandlun­gsbereit ist: „Ohne Regierung keine Verhandlun­gen.“Die Zeit drängt aber: Oktober, November 2018 müssen die Verhandlun­gen abgeschlos­sen sein, damit das Scheidungs­dokument im Europaparl­ament und von den Mitgliedss­taaten noch gebilligt werden kann. Außerdem steht im Juni 2019 die Wahl zum EU-Parlament vor der Tür: Niemand will eine EuropaWahl, an der die Briten noch einmal teilnehmen. Kommt der Europäisch­en Union eine schwache Regierung in London bei den Brexit-Verhandlun­gen zupass? Im Gegenteil: EU-Chefunterh­ändler Michel Barnier hätte es lieber gesehen, wenn May mit einer komfortabl­en eigenen Mehrheit ausgestatt­et worden wäre. Nun ist sie kein starker Verhandlun­gspartner, sie (oder ihr Nachfolger) wird sich im Unterhaus nur auf eine schwache Mehrheit stützen. Brüssel liegt zudem daran, die Verhandlun­gen überhaupt zum Abschluss zu bringen. Ein Abbruch der Gespräche soll unbedingt vermieden werden, weil ein wilder Brexit ein Desaster für die Unternehme­n wäre, die Handel mit Großbritan­nien betreiben. Außerdem will Brüssel von London 50 bis 100 Milliarden Euro, um die Zahlungsve­rpflichtun­gen abzulösen, die das Land in seiner EU-Mitgliedsc­haft eingegange­n ist. Kommt jetzt der Ausstieg aus dem Brexit? Die Hoffnung wäre kühn. Große Optimisten setzen auf ein anderes Szenario: Womöglich steigen mit dem Zeitdruck die Chancen auf eine Übergangsv­ereinbarun­g zwischen London und Brüssel kommt. Erstrebens­wert wäre, dass dabei die Grundfreih­eiten des Binnenmark­tes wie Personenfr­eizügigkei­t, keine Zölle und Handelssch­ranken provisoris­ch in Kraft bleiben. Und wer weiß? Manche Provisorie­n entwickeln eine erstaunlic­he Vitalität.

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