Mordslust auf Krimis
zen Geschichte des Menschen ist kein Kapitel unterrichtender für Herz und Geist als die Annalen seiner Verirrungen“, beginnt er seine Geschichte „Der Verbrecher aus verlorener Ehre“, die man als einen frühen Krimi lesen kann. Die Verirrungen der anderen studieren, sie mit Herz und Geist erfassen, das entspricht dem Drang des Lesers, die Welt zu durchdringen, sich in emotionale Zustände und Lebensumstände zu versetzen, die er nicht kennt, und ein bisschen mehr zu verstehen, wer der Mensch ist. Der Krimi treibt das Individuum an seine Grenzen, in zwielichtige Gegenden, in moralische Nöte und sieht zu, was passiert. Frauen reizt das mehr als Männer. 61 Prozent aller Krimikäufer sind weiblich. „Gerade Frauen beschäftigen sich gern mit psychologischer Deutung“, sagt die Frankfurter Literaturwissenschaftlerin Julika Griem. Sie bekommen immer schwerere Fälle dargeboten: Die Figur des Ermittlers hat sich gewandelt vom schlauen Detektiv im 19. Jahrhundert, der an die Technik glaubt und sich mit neuesten Mitteln der Forensik an die Arbeit macht, hin zum gebrochenen Kommissar, Typ Wallander, der an der Wirklichkeit fast zerbricht, private Probleme hat, darüber grüblerisch geworden ist, einsam, dem Alkohol zugeneigt. „Das spiegelt die Durchtherapiesierung der westlichen Gesellschaft“, sagt Griem, „wir wollen Figuren, die nicht ganz in Ordnung sind, denn nichts ist langweiliger als ein gesunder, robuster Kommissar, der an der Welt nicht leidet.“Allerdings habe es die gebrochenen Ermittler auch früher schon gegeben. Zwei Pioniere der Krimiliteratur, Edgar Allan Poes Monsieur Dupin und Sir Arthur Conan Doyles Sherlock Holmes sind keineswegs durchschnittliche Zeitgenossen. Sie neh-
men Drogen, tigern nachts durch die Stadt, haben kein stabiles Familienleben. „Schon früh ist diese Brüchigkeit also ins Genrerepertoire eingeschrieben worden“, sagt Griem.
Doch der Krimi ist nicht nur Spiegel unserer gewaltvollen, intrigenhungrigen Gegenwart. Er ist auch eine Utopie, denn es gehört zum Muster der meisten Krimis, dass die Ordnung am Ende wiederhergestellt wird. „Allerdings nur vorläufig“, sagt Julika Griem, „mit jedem Krimi, den wir zuschlagen, sind wir noch mal davongekommen, freuen uns aber schon auf das nächste Verbrechen. Das Serielle ist Teil des Genres.“Der Krimi wühlt auf, er schildert Verletzungen der zivilen Ordnung, die je nach Härtegrad des Autors bis zur Schilderung bestialischer Verbrechen reichen können. Doch der Krimi sorgt auch selbst für Spannungsabfuhr, in der Regel folgt die Auflösung, Sicherheit wird zurückerobert, die fürchterliche Welt da draußen wirkt wieder ein bisschen übersichtlicher. Das ist viel.
Mit seiner bruchstückhaften Erzählweise lenkt der Krimi außerdem Aufmerksamkeit auf das Geschichtenerzählen selbst. Die raffinierte Form, das kluge Konstrukt sind Unterhaltung an sich. „Leser sind immer Spurensucher, sie fügen eine Geschichte zusammen, füllen Leerstellen, ergründen die Motive der Figuren – so ist der Krimi eine Dramatisierung des Lesens selbst“, sagt der Berliner Literaturwissenschaftler Florian Sedlmeier. Wohin sich der Krimi noch entwickeln, welche Genres er sich nach Wissenschafts- bericht, Reiseliteratur, Gastroführer noch einverleiben wird, wollen auch Experten nicht orakeln. Sedlmeier hält nur eines für gewiss: „Krimis erkunden die dunklen Seiten der Gesellschaft. So helfen sie der Gemeinschaft zu existieren. Die Faszination für Gewalt wird nicht nachlassen.“
Doch welcher Krimi soll nun mit in die Sommerferien? Soll es eine Neuerscheinung sein, ein Bestseller, eine Geschichte passend zum Urlaubsort oder eine Empfehlung erfahrener Krimileser?
Solche Empfehlungen wollen wir geben. Ab Montag werden Redakteure im Feuilleton dieser Zeitung ihre Lieblingskrimis besprechen. Das reicht von Ungewöhnlichem wie den detektivischen Versuchen eines Ernst Jünger bis zu Bestsellern eines Martin Suter – von humorvoller Spannungsliteratur der Britin M. C. Beaton bis zu den packenden Kriminalstoffen des Spaniers Carlos Ruiz Zafon.
So wird sich eine Liste höchst persönlicher Buch-Empfehlungen ergeben – keine Rangfolge, kein Kanon. Tipps für den Sommer. Denn gerade weil der Krimi so viele Spielarten kennt, hängt es von persönlichen Vorlieben ab, welcher Ermittlertypus, welches Milieu, welcher verbrecherische Härtegrad zum Leser passt. Vom heiteren Knobelstoff bis zu Intrigen unter Soldaten in Afghanistan – wir haben den Bogen weit gespannt. Leseraktion Welcher ist Ihr liebster Krimi? Schreiben Sie uns den Titel Ihres Favoriten und den Namen des Autors. Wir sammeln alle Tipps und veröffentlichen auch Ihre Empfehlungen. Einsendungen bitte an: Rheinische Post, Kultur, „Krimi“, 40196 Düsseldorf; oder per E-Mail an: kultur@rheinische-post.de