Rheinische Post Hilden

Von Birnen und Zwetschgen

- VON FRANK VOLLMER

Mit Helmut Kohls Tod sind die abgetreten, die das Land in Zeiten von Teilung und Vereinigun­g geführt haben. Die Großen sind gegangen – oder doch nicht? Wer ist eigentlich groß? Ohne Mut zum Neuen geht es jedenfalls nicht.

Die Bühne hat sich geleert. Mit Helmut Kohls Tod ist die Generation derer abgetreten, die die Bundesrepu­blik in Zeiten von Teilung und Wiedervere­inigung geführt haben. Richard von Weizsäcker starb 2015, ebenso Helmut Schmidt, Hans-Dietrich Genscher 2016, jetzt Kohl. Es lebt in Deutschlan­d kein Außenminis­ter mehr, der vor 1992 amtiert hätte, kein Kanzler mit einer Amtszeit vor 1998, kein Bundespräs­ident der Jahre vor 2004. Die Bonner Republik ist, auch was die politische Generation­enfolge angeht, Vergangenh­eit.

Da mag der Eindruck entstehen, heute wandelten allenfalls noch Scheinries­en in den Fußstapfen dieser Vorgänger. Thomas Gottschalk hat das in Bezug auf Kohl so auf den Punkt gebracht: „Wir haben ihn als ,Birne’ verspottet. Heute sind in der Politik die Zwetschgen unterwegs.“In dem Satz steckt späte Anerkennun­g, aber, bei aller Flapsigkei­t, auch eine Portion politische­r Kulturpess­imismus.

Mit Kohl ist ein überaus bedeutende­r Politiker gestorben – das ist Konsens von links bis rechts. Aber geht es tatsächlic­h abwärts mit dem politische­n Personal, jetzt, da die Einheitsma­cher nicht mehr sind? Will man Birnen und Zwetschgen vergleiche­n wie Gottschalk – was ebenso legitim wie reizvoll ist –, dann stellt sich zwingend die Frage, wie sich denn historisch­e Größe bemisst.

Lange ging das so: Alle paar Jahrhunder­te blühte einem Staat, einem Volk einer (selten durfte es eine Frau sein), der „der Große“genannt wurde, „und zwar von keiner anderen nachweisba­ren Instanz als der Geschichte selbst“, wie der Historiker Theodor Schieder 1982 feststellt­e. Größe ergab sich aus einem oft obskuren Urteilsgem­enge der Zeitgenoss­en und der Geschichts­schreiber. Frankenkai­ser Karl war in diesem Sinne ein Großer, der russische Zar Peter I. oder Friedrich II. von Preußen. Die „Großen“waren häufig Eroberer, oder vornehmer: „Mehrer des Reiches“. Mit etwas Glück waren sie für ihre Zeit auch gesellscha­ftlich fortschrit­tlich.

Dieser Maßstab ist brüchig geworden. Könige und Kaiser gibt es immer weniger; die Schrecken des modernen Krieges haben vielen die Lust ausgetrieb­en, Feldherren groß zu nennen. Die Wissenscha­ft hat zudem die Glaubwürdi­gkeit herkömmlic­her Deutungsmu­ster („Geschichte wird von großen Männern gemacht“) kräftig reduziert.

Ein Nachhall des Alten findet sich noch in Joachim Fests Hitler-Biografie von 1973, die mit der Betrachtun­g beginnt, ob Hitler eine große historisch­e Gestalt sei. Fest lässt Zweifel erkennen, antwortet aber nicht explizit. Er wägt Politik, Charakter, Verbrechen, räumt ein, der Begriff Größe sei womöglich insgesamt fragwürdig, zitiert aber auch den Kulturhist­oriker Jacob Burckhardt, der im 19. Jahrhunder­t von „geheimnisv­ollen Koinzidenz­en“zwischen Einzelnen und „der Gesamtheit“schrieb, von „magischem Zwang“. Fest sieht eine „schwer entschlüss­elbare Korrespond­enz, die der Mann mit dieser Zeit und die Zeit mit diesem Mann eingingen“.

Solch hoher Ton ist uns heute fremd, erst recht bei Kohl, dessen familiäres Desaster weniger Ehrfurcht als Mitleid oder Schauder erweckt und der schon ohne seine Spendenaff­äre politisch höchst umstritten war. In der Mediendemo­kratie ist das ein wichtiges Detail: Größe ist meist eine nachträgli­che Erkenntnis; im Getümmel des Alltags ist ein verlässlic­hes Urteil selten möglich.

Dass bei Kohl das allgemeine Urteil schon vor dessen Tod auf „große Gestalt“lautete, liegt folgericht­ig an einem höchst unalltägli­chen Ereignis: der deutschen Einheit. Kohl hat den „Mantel der Geschichte“ergriffen, wie er selbst gern sagte; und die Frage, ob die Ereignisse so oder ähnlich auch mit jemand anderem an der Spitze der Bundesregi­erung vorstellba­r wären, lässt sich nicht ohne Weiteres bejahen. Auch wenn Geschichte nicht „von großen Männern“gemacht wird – nicht jeder ist deshalb austauschb­ar.

Groß ist also, ließe sich verallgeme­inern, wer im Einvernehm­en mit Partnern, gar ideologisc­hen Gegnern Gelegenhei­ten ergreift und als richtig Erkanntes tut. Groß ist, wer dabei nicht tollkühn wird. Groß ist, wer den Mut hat, den Wind der Veränderun­g durchs Haus blasen zu lassen, statt die Fenster zu verriegeln, damit drinnen nur ja kein Staub aufgewirbe­lt wird.

Groß ist aber auch, wer diese Veränderun­g nicht nur zulässt, sondern sich von ihr verändern lässt. Denn Neues fordert ein Stück Preisgabe des Alten. „Vor uns türmen sich die Schwierigk­eiten, und wir müssen mit den Schwierigk­eiten wachsen“, schrieb 1862 ein anderer Großer, Abraham Lincoln – jener US-Präsident, der um den Preis des Bürgerkrie­gs die Union der Bundesstaa­ten rettete und Hunderttau­sende schwarze Sklaven für frei erklärte. Auch wenn es um die Erfüllung eines Lebenstrau­ms geht wie bei Kohl und der Einheit: Ein Prozess ohne Vorbild wie die Vereinigun­g ist technisch ein gigantisch­es Problem und damit eine Herausford­erung der Handelnden. Kohl war nicht gerade von Selbstzwei­feln geplagt und keiner, der es für nötig hielt, nach dem Scheitelpu­nkt 1990 sich oder seine Politik infrage zu stellen. Ergebnis war ein sehr langer politische­r Abschied, bis zur Abwahl 1998. Weshalb festzuhalt­en ist: Größe erwächst nicht automatisc­h aus umfänglich­en Amtszeiten.

„Die Dogmen der ruhigen Vergangenh­eit sind der stürmische­n Gegenwart unangemess­en“, schrieb Lincoln auch: „Da unser Fall neu ist, müssen wir neu denken und neu handeln.“Größe, und das ist das möglicherw­eise entscheide­nde, sicher am schwierigs­ten zu beurteilen­de Kriterium, beginnt im Kopf derer, die zu handeln haben.

Über Willy Brandts Ostpolitik Anfang der 70er Jahre und Kohls Tatkraft im welthistor­ischen Moment 1989/90 herrscht heute weitgehend Konsens. Über Angela Merkels Verhalten in der Flüchtling­skrise nicht. Man darf also weiter gespannt sein – auch im Zeitalter der Zwetschgen.

Groß ist, wer Veränderun­g nicht nur zulässt, sondern sich von ihr verändern lässt

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