Hinten links im Begleitfahrzeug
Unser Autor erlebte die zweite Etappe der Tour de France aus ungewöhnlicher Perspektive. Er saß von Düsseldorf bis Lüttich im Auto des Veranstalters.
DÜSSELDORF/LÜTTICH Wenn Kinder wüssten, dass Begleitfahrzeugfahrer ein Beruf ist, wollten wahrscheinlich weniger Pilot werden. Oder Lokführer. Und viele mehr Begleitfahrzeugfahrer. Denn ein Begleitfahrzeugfahrer darf das, was Kinder toll finden: Regeln Regeln sein lassen. So wie Andy. Der ist Begleitfahrzeugfahrer bei der Tour de France. Und er sitzt die nächsten 203,5 Kilometer vor mir. Denn Andy fährt den Wagen, in dem ich die zweite Etappe von Düsseldorf nach Lüttich hinten links sitze.
Andy heißt mit Nachnamen Flickinger. Er ist Franzose, 38, und bei den Veranstaltern der Tour de France angestellt, der A.S.O. Und er ist das, was die Ankündigung für meine heutige Fahrt versprochen hat: ein ehemaliger Radprofi. Andy hat keine große internationale Berühmtheit erlangt in seiner Karriere, aber er ist immerhin mal 39. geworden bei der Tour de France. 2003 war das. „Und wer einmal die Tour gefahren ist, den lässt sie nicht mehr los“, sagt Andy. Deswegen fährt er sie immer noch. Nicht mehr auf dem Rad, sondern im Oberklassewagen des Automobilsponsors, aber er ist eben weiter Teil der Tour. Und das ist für ihn entscheidend. Das hier alles sei wie eine große Gemeinschaft, sagt Andy.
Die Gemeinschaft, die um 12 Uhr vor dem Düsseldorfer Rathaus in Andys silbergrauen Kombi einsteigt, besteht nur aus vier Leuten. So wie sie auch in den kommenden drei Wochen jeden Tag aus vier Leuten bestehen wird, denn die Tour bietet jeden Tag Gästen an, in einem Begleitfahrzeug die Etappe mitzufahren. Schwanger sollte man allerdings nicht sein und auch nicht schnell seekrank werden im Auto – so steht es jedenfalls in den Warnhinweisen der Einladung. Ich habe vorsorglich zwei Tabletten gegen Übelkeit eingepackt.
Andy ist kein Mann großer Worte auf diesen 203,5 Kilometern. Aber er soll ja auch in erster Linie fahren. Was gar nicht so einfach ist. Eben weil er sich nicht an Regeln halten muss. Wir passieren unzählige rote Ampeln, fahren links herum durch Kreisverkehre, und von jeder digitalen Anzeige in einer 30er-Zone strahlt uns böse das rote Smiley entgegen, das uns tadelt, wir führen zu schnell. Und das tun wir natürlich. Es fühlt sich jedenfalls skurril an, Polizei-Motorräder mit 70 km/h in der geschlossenen Ortschaft zu überholen. Als ich das aufgeregt anmerke, lächelt Andy nur kurz. Es ist halt Alltag für ihn.
Über Funk läuft in Andys Wagen „Radio Tour“, die Stimme der Tour de France. Hier werden immer wieder Zwischenstände durchgegeben, wie weit die vier Ausreißer vorne liegen. Fast alles auf Französisch, versteht sich. Über Radio Tour bedankt sich auch Tour-Direktor Christian Prudhomme für die „fantastische Stimmung in Düsseldorf und den anderen Städten entlang der Strecke“. In diesem Moment fährt das Fahrerfeld über die belgische Grenze.
Andy will uns während dieser Etappe etwas bieten. Am Anfang sind wir vor den Fahrern aus Düsseldorf herausgefahren, aber hinter der ersten Bergwertung halten wir an. Gegenüber von einem Stand mit Himbeeren und Brombeeren. Wir lassen die vier Ausreißer passieren und heften uns im wahrsten Sinne des Wortes an ihre Hinterräder, denn wir sind in manchen Kurven das vorderste Begleitfahrzeug. Andy findet noch Zeit, mit dem Motorradfahrer neben uns ein Pläuschschen zu halten. Dann fragt er nach hinten, ob wir noch mal das Feld live erleben wollen. Klar, wollen wir, und so juckeln wir die nächsten Minuten gemütlich durch Jülichs Vororte und lassen uns von dutzenden anderen Wagen und noch mehr Motorrädern überholen. Menschen winken uns zu und fotografieren uns. Sie können ja nicht wissen, dass in dem Auto keine Bekanntheit sitzt. Gut, vielleicht Andy ein bisschen.
Die größte Faszination ist für mich das blinde Verständnis, das zwischen all den Fahrern der riesigen Begleitkolonne zu herrschen scheint. Und während Andy die Entfernung zum über die Straße laufenden Hund offenbar als so ausreichend abschätzt, dass Bremsen eine unnötige Aktion wäre, frage ich mich, ob der Hund nicht einfach auch ein bisschen Glück gehabt hat. Aber wahrscheinlich bin ich zu ängstlich. Schneller als 80 km/h dürfe man nicht fahren, sagt Andy, als er kurz mal auf 120 beschleunigen muss. Wenn es etwas gibt, was ihn an seinem Job stört, dann die Motorradfahrer. „Es ist gefährlich mit ihnen. Du musst sie immer im Blick haben.“
Ob es denn schwer für ihn gewesen sei, sich bei seiner ersten Tour an diesen Fahrstil zu gewöhnen, frage ich Andy, als wir in Lüttich aussteigen. „Nein“, sagt er, „es ist danach immer nur schwer, sich wieder an den normalen Straßenverkehr zu gewöhnen.“Der, bei dem Kreisverkehre im besten Fall von allen rechts herum durchfahren werden.
Menschen winken und fotografieren uns. Sie können ja nicht wissen, dass in dem Auto keine
Bekanntheit sitzt