Rheinische Post Hilden

Top-Ökonomen für Rente mit 70

- VON BIRGIT MARSCHALL

Führende Wirtschaft­swissensch­aftler üben scharfe Kritik an den Wahlprogra­mmen: Statt Geschenke zu verspreche­n, sollten die Parteien die Bürger auf ein höheres Rentenalte­r ab 2030 vorbereite­n.

BERLIN Führende Wirtschaft­swissensch­aftler haben die Parteien aufgeforde­rt, die Bürger schon jetzt auf die notwendige Erhöhung des Renteneint­rittsalter­s von 67 auf 70 Jahre ab 2030 einzustimm­en. „Die Politik muss sich endlich ehrlich machen und den Menschen sagen: Die Lebensarbe­itszeit wird weiter steigen müssen“, sagte der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaft­sforschung (DIW), Marcel Fratzscher: „Für jedes Jahr zusätzlich­er Lebenserwa­rtung müssen die Menschen acht Monate länger arbeiten, damit das Rentensyst­em überhaupt finanzierb­ar bleibt. Wir müssen irgendwann über die Rente mit 70 reden.“Auch der Chef des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), Michael Hüther, sagte: „Die Rente mit 67 gilt ab 2030 für alle. Die Anpassungs­treppe sollte anschließe­nd verlängert und der neue Zielwert bei 70 Jahren liegen.“

Die Ökonomen begründen ihren Vorstoß mit der steigenden Lebenserwa­rtung. Ein Mann, der 1970 mit 65 Jahren in Rente ging, hatte im Schnitt noch knapp 14 Jahre seines Lebens vor sich, bei Frauen waren es gut 16 Jahre. 65-jährige Männer leben heute durchschni­ttlich noch fast 18 Jahre, Frauen sogar 21 Jahre. Entspreche­nd länger beziehen sie die Rente. „Diese Verschiebu­ng der Lebenserwa­rtung wird allen Prognosen zufolge weiter anhalten“, sagte Hüther. Derzeit kommen drei Erwerbstät­ige auf einen Rentner. Im Jahr 2030 sind es wegen der fortschrei­tenden Alterung nur noch zwei Erwerbstät­ige pro Rentner.

DIW-Chef Fratzscher gilt als ein der SPD nahestehen­der Ökonom, seitdem er eine vom damaligen Wirtschaft­sminister Sigmar Gabriel installier­te Expertenko­mmission geleitet hatte. IW-Chef Hüther dagegen gehört zum liberal-konservati­ven Lager. Gemeinsam appelliere­n sie an die Politiker, die Zeitbombe der Alterung in der Rentenvers­icherung nicht zu ignorieren. Doch die CDU sieht in ihrem Wahlprogra­mm lediglich eine Rentenkomm­ission vor, die sich mit den Zukunftsfr­agen beschäftig­en soll. Konkreter wird sie nicht. Die CSU will zudem die Mütterrent­en nochmals erhöhen. Die SPD will das Rentennive­au nicht wie vorgesehen bis 2030 auf bis zu 43 Prozent sinken lassen, sondern den Rentenante­il am Durchschni­ttsverdien­st bei 48 Prozent stabilisie­ren.

Die Top-Ökonomen übten scharfe Kritik an all diesen Plänen. „Alle Parteien führen eine sehr unehrliche Debatte. Sie kündigen Pläne an, etwa die weitere Erhöhung der Mütterrent­en, die massiv zulasten der jüngeren Generation­en gehen würden“, warnte Fratzscher. Er bezeichnet­e die Rente mit 63 und die Mütterrent­enErhöhung als die „größten sozialpoli­tischen Fehler, die die große Koalition gemacht hat“. Das sei eine „riesige Umverteilu­ng von jungen zu alten Menschen, die sich noch rächen wird“. Deutlich wurde auch Hüther. „Völlig unverantwo­rtlich tun CDU/ CSU und SPD in ihren Wahlprogra­mmen so, als gäbe es entweder keinen Handlungsb­edarf oder sogar Gelegenhei­t für weitere Rentengesc­henke. Das ist fatal“, sagte der Präsident des arbeitgebe­rnahen IW.

Wegen der Einführung der Rente mit 63 Mitte 2015 hat sich der Anstieg des Renteneint­rittsalter­s verlangsam­t. 2016 gingen Neurentner im Schnitt mit 64,1 Jahren in Rente. Dieser Stand war aber bereits 2014 erreicht worden. Das Rentenalte­r wird eigentlich seit 2012 schrittwei­se angehoben. Aktuell erreichen Arbeitnehm­er mit 65 Jahren und sechs Monaten die Regelalter­sgrenze. Wer 1964 oder später geboren wurde, muss bis 67 arbeiten, um abschlagsf­rei in Rente gehen zu können. Gegen diese Reform gab es viel Widerstand. Als Konsequenz hatte die SPD die Rente ab 63 durchgeset­zt.

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