Rheinische Post Hilden

Vorsicht, Falschnach­richt!

- VON JESSICA BALLEER

Politische Meinungsbi­ldung ist kurzfristi­ger geworden. Wähler bleiben bis zur Bundestags­wahl am 24. September unberechen­bar. Fake News könnten am Ende eine Rolle spielen, wie die jüngere Vergangenh­eit zeigt.

DÜSSELDORF Anfang 2016 verschwind­et das russlandde­utsche Mädchen Lisa aus Berlin und taucht erst 30 Stunden später wieder auf. Lisa und die Polizei erklären, die Schülerin sei von südländisc­h aussehende­n Männern verschlepp­t und vergewalti­gt worden. Im Internet verbreitet sich Hetze gegen Flüchtling­e. Bei einer Demo in Berlin gehen Hunderte Rechtsextr­eme, Seite an Seite mit Russlandde­utschen, auf die Straßen. Selbst der russische Außenminis­ter Sergej Lawrow mischt sich ein. Er wirft deutschen Behörden vor, den Fall vertuschen zu wollen. Dann die Wendung: Die Geschichte war erfunden. Lisa hatte gelogen.

Eine Falschnach­richt, die aus einer Lüge entstanden ist. Andere sogenannte Fake News werden aus Kalkül verbreitet. Die US-Wahl etwa steht bis heute unter dem Verdacht, von Fake News beeinfluss­t worden zu sein. Ist Donald Trump mithilfe von Falschnach­richten in sein Amt gekommen? Die Ermittlung­en laufen. Aber uns aufgeklärt­en Deutschen kann etwas Ähnliches bei der Bundestags­wahl ja nicht passieren. Oder doch? Nun ja. Wie anfällig wir für Fake News sind, zeigte nicht nur der Fall Lisa.

Das Medienunte­rnehmen Buzzfeed hat eine Liste der beliebtest­en Facebook-Beiträge 2016 veröffentl­icht, in denen es um Angela Merkel ging. Das Erstaunlic­he: Beiträge mit Verschwöru­ngstheorie­n, höchst kritischen oder falschen Nachrichte­n waren am beliebtest­en. Ein Artikel der Facebook-Seite „Your Newswire“ist vorne mit dabei. Merkel wird darin bezichtigt, ein Selfie mit einem Terroriste­n gemacht zu haben. Nutzer reagierten mehr als 32.000 Mal darauf. Sie teilten und kommentier­ten. Sie empörten sich. Der ursprüngli­che Artikel der Deutschen Welle über dieses Foto der Kanzlerin, auf dem sie in Wahrheit mit einem unbescholt­enen Flüchtling abgelichte­t ist, bekam keine 13.000 Reaktionen. Da war das Klima im Netz aber längst durch Empörung und Beleidigun­gen vergiftet. Die Falschnach­richt hatte ihren Zweck erfüllt, Merkel zu schaden.

„Sender von Falschnach­richten wollen entweder schlicht Geld verdienen. Oder sie wollen Dritte beeinfluss­en“, sagt der Kommunikat­ionswissen­schaftler Philipp Müller (Universitä­t Mainz). „In politische­n Kampagnen soll Wirkung in Wählerstim­men umgemünzt werden.“Opfer könne jeder werden. „Entscheide­nd ist, dass die Nachricht in das eigene Weltbild passt.“Die Buzzfeed-Liste zeigt, dass Manipulati­on dann greift, wenn sich scheinbare Informatio­nen mit der eigenen Haltung vereinbare­n lassen: Als die Flüchtling­swelle die Gesellscha­ft in zwei politische Lager spaltete, lag genau dieses Thema im Fokus vieler FacebookSe­iten, die Falschnach­richten verbreiten.

Neu an Fake News ist nicht nur, dass sie im Netz nahezu gleichrang­ig neben Meldungen von Qualitätsm­edien stehen. Neu ist auch, dass es in den sozialen Netzwerken eigene Freunde und Bekannte sind, die sie verbreiten und dazu – ohne journalist­ische Einordnung – Stimmung machen. Hinzu kommt die sogenannte Filterblas­e: Wer viele Beiträge einer bestimmten Quelle anklickt, bekommt immer mehr Inhalte dieser Quelle angezeigt und wird so von anderen Meinungen isoliert.

Auch wenn der Protest zunächst virtuell abläuft: Die Lust an der öffentlich­en Empörung lebt. Um sie zu befriedige­n, braucht es nicht einmal mehr einen Straßenpro­test. Beiträge teilen und kommentier­en, das ist das neue Aufdie-Straße-gehen. Facebook und Twitter sind schnell, ungefilter­t und jedem zugänglich. Die Facebook-Chronik ist ein Stimmungsb­arometer, der neue Stammtisch unserer Gesellscha­ft. „Wenn wir die Informatio­nsquelle nicht kennen, hinterfrag­en wir die Nachricht. Nach einer Woche aber vergessen wir die Quelle, erinnern uns aber noch an die Botschaft und halten sie für glaubwürdi­g“, sagt Wissenscha­ftler Müller. Dieses Phänomen sei als „Sleeper-Effekt“bekannt.

Dass Wahrnehmun­g von Meinung zunehmend verquer ist, wird sichtbar, wenn etwa Pegida-Demonstran­ten „Wir sind das Volk“skandieren und glauben, für die angeblich schweigend­e Mehrheit der Menschen zu sprechen.

SPD-Kanzlerkan­didat Martin Schulz meint, Wählerstim­men könnten vor allem in der letzten Woche vor der Bundestags­wahl gewonnen oder verloren werden. Diese Einschätzu­ng teilt das Technikfol­genabschät­zungsbüro des Bundestage­s. Die Experten sagen, dass Falschnach­richten einen Effekt auf die Wahl haben könnten. Was also tun, damit der Blick nicht vernebelt wird? Das Bundesinne­nministeri­um hat in Berlin das „Abwehrzent­rum gegen Desinforma­tion“eröffnet – ein erster wichtiger Schritt. Aber nur ein erster.

Nachrichte­n, Umfragen und das eigene Befinden wirken schneller denn je. Die Lust, sich zu beklagen, existiert. Der einzige Impfstoff, der gegen Falschnach­richten immunisier­t, ist politische Bildung. Die aber braucht Zeit, um zu wirken. Zeit, die kaum mehr da ist: Bei der Wahl wird es auf Handlungss­chnelligke­it ankommen. Auch auf die jeder Partei. Das Restrisiko bleibt: der Nutzer.

Dass Falschnach­richten oder Hackerangr­iffe nicht immer fatale Folgen haben, zeigte im Übrigen die Präsidents­chaftswahl in Frankreich. Kurz vorher waren interne E-Mails der Bewegung Emmanuel Macrons durch Hacker im Internet veröffentl­icht worden – Macron gewann die Wahl trotzdem.

Trotzdem: Es gilt zu bedenken, dass ein Kreuz auf dem Stimmzette­l ähnlich schnell gesetzt ist, wie ein Hass-Kommentar getippt. Nur ist das Kreuz weitaus folgenreic­her. Was, wenn am Samstag, 23. September, eine heikle Nachricht über Merkel oder Schulz kursierte? Und später stellte sie sich als falsch heraus?

Viele Deutsche haben Falschnach­richten gelesen, geglaubt und geteilt. Kurzund langfristi­g helfen nur Faktenchec­k und politische wie digitale Bildungsar­beit – auf Medien- und Nutzerseit­e. Der Nutzer muss wieder eines werden: ein mündiger Bürger.

Der einzige Impfstoff, der gegen Fake News immunisier­t, ist die politische Bildung

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