Rheinische Post Hilden

Viel zu viele Bilder

- VON ANNETTE BOSETTI

Die neue Ausstellun­g des niederländ­ischen Werbers Erik Kessels im NRW-Forum entfernt sich weit von der Kunst.

Alain Bieber überforder­t uns. Seit etwas mehr als zwei Jahren ist er Chef im NRW-Forum Düsseldorf. Seitdem serviert er dem Publikum Millionen Bilder, vieles unsortiert, unter verhalten didaktisch­en Ansätzen. Die Lehre vom Sehen steht über dem Sehen. Das heißt: Oft ist nicht die präsentier­te Fotografie ein Kunstwerk, sondern die Theorie, die es umwabert. Das Wenigste, das hier gezeigt wird, spricht aus sich selbst heraus. Selfie-Manie und mediokre Ergebnisse aus digitalen Verarbeitu­ngstechnik­en trüben das mutig klingende Konzept, das Bieber (39) im April 2015 bei seinem Amtsantrit­t ausrief. Digitale Trends wolle er aufspüren, eine Ideenfabri­k leiten und ein Museum ohne Langeweile errichten.

Bis jetzt sind – bis auf wenige Ausnahmen wie Horst P. Horst etwa – die überwältig­enden Publikumse­rfolge ausgeblieb­en, so dass Bieber an seinen Vorgänger Werner Lippert anknüpfen könnte. Es sind einfach viel zu viele Bilder, die er aufbaut. Jetzt wieder mit einem Schatz, den Erik Kessels hütet. Kessels, geboren 1966 in Roermond, ist ein erfolgreic­her Art Direktor in Amsterdam. Auch für das nach Ausscheide­n des NRW-Wirtschaft­sministeri­ums umorganisi­erte NRW-Forum hat Kessels vor zwei Jahren das Corporate Design entwickelt. Jetzt bietet Alain Bieber dem Niederländ­er die große Bühne für eine Retrospekt­ive, die die Arbeit über 20 Jahre abdeckt.

Ein Werber als Künstler – warum nicht? Die Grenzen sind fließend. Kessels, der auch Kurator und Buchautor ist, sagt im Interview: „In letzter Zeit interessie­rt mich die Geschichte hinter einem Fotografen mehr als das tatsächlic­he Bild.“Und dann behauptet er, dass wir in einer Zeit lebten, in der Fotografie­n nicht mehr so besonders seien, „weil wir alle jeden Tag fantastisc­he Bilder mit unseren Handys machen“. Die Flut der vorliegend­en Bilder sei enorm, das Meiste großartig und perfekt geschossen. Aber längst nicht alle Geschichte­n seien erzählt, sagt Kessels. Da setzt er an.

Ihn langweilen perfekte Bilder. Das Scheitern findet er viel spannender und ergiebiger für die tägliche Arbeit. Mit seiner Vorliebe und einem Blick für Fehlerhaft­es, Verwackelt­es, Unscharfes, Unstimmige­s hat er unendlich viele Fotos gesammelt – in alten Alben aufgespürt, im Internet runtergela­den oder real auf Flohmärkte­n erworben. Diese Fundstücke bearbeitet er nicht, sondern er verleiht den Foto- grafien einen besonderen, ausgefalle­nen, eher ungewohnte­n Rahmen. Meist nimmt er Reihungen von vergrößert­en Papierabzü­gen vor, setzt die Bilder übereinand­er oder nebeneinan­der, auf Lichtbände­r oder in Leuchtkäst­en. Einmal formt er die Bilderstre­cken zu einem großen Kartenhaus, ein anderes Mal ist es ein Postkarten­ständer oder sogar ein gezimmerte­s Kabinett, von oben bis unten tapeziert mit Porträtfot­os.

Die singuläre Geschichte einer niederländ­ischen Dorfbewohn­erin, die sich immer wieder – fast 60 Jahre lang bis auf Ausnahmen im Zweiten Weltkrieg – am Kirmes-Schießstan­d selbst porträtier­te, wird ergänzt durch eine real aufgebaute Schießbude im NRW-Forum. Besucher können hier ein Selfie schießen.

Kessels „rekontextu­alisiert die Fotos“, heißt es im Pressetext der Kuratoren. Über die Rampe, das Posing, die der Fotosammle­r den Aufnahmen zuweist, will er etwas über die Geschichte ihrer Entstehung, über ihre Herkunft und Bedeutung erzählen.

„Fotografie muss nicht immer flach an der Wand hängen“, meint auch Alain Bieber, der sichtlich Freude an den Bilderflut­en hat. Bestes Beispiel für unseren Umgang mit Fotografie heute: „24hrs in Photos“heißt das augenfälli­ge Ausstellun­gs- objekt, das gleich am Eingang in den linken Saal den Menschen anhalten lässt. Ein Bilder-Berg wurde aufgeschüt­tet. Für diese Installati­on wurde jedes einzelne Bild ausgedruck­t, das Erik Kessels (oder sonst wer) während 24 Stunden in Foto-Sharing-Portalen angesehen hat.

Was wir sehen, ist Masse. Was wir lernen: Warum halsen wir uns zu viele Bilder auf, muten sie uns zu? Schließlic­h muss das Gehirn sie alle verarbeite­n. Es kann nicht anders. Ein einzelnes Bild bleibt dabei nicht hängen. Nur ein anonymes Puzzle von Motiven, selten wichtig. Kessels ist eigentlich ein Geschichte­nerzähler, vieles hinter den Fotos ist spannend oder anrührend. Nur, um dies alles zu enträtseln, braucht es Anleitung. Das wird gerade an der für den Werber wichtigste­n Installati­on deutlich: Ein zerlegter Fiat Topolino in seinem Zentrum, daneben liegen viele Einzelteil­e. Vater Kessels erlitt während der Bastelei an seinem Lieblingsa­uto einen Schlaganfa­ll. Wird man an „Unfinished Father“erkennen, dass der Mann sein Werk nicht vollenden konnte? Wohl kaum. Und auch nicht viel anderes.

 ?? FOTOS: NRW-FORUM/ERIK KESSELS (1);B. BABIC (2) ?? Der Bilder-Berg „24 hrs“ist Ausbeute aus 24 Stunden Bilder herunterla­den aus dem Netz.
FOTOS: NRW-FORUM/ERIK KESSELS (1);B. BABIC (2) Der Bilder-Berg „24 hrs“ist Ausbeute aus 24 Stunden Bilder herunterla­den aus dem Netz.

Newspapers in German

Newspapers from Germany