Rheinische Post Hilden

Als Nebenkläge­r gegen den NSU

- VON HENNING RASCHE

Ismail Yasar wurde 2005 in seinem Nürnberger Imbiss vom NSU ermordet. Ein Anwalt aus Korschenbr­oich vertritt die Familie.

KORSCHENBR­OICH/MÜNCHEN Mehr als 300.000 Seiten, das ist ein kleiner Lieferwage­n voller Papier. Kein Mensch kann so etwas einfach lesen. Das ist eine Lebensaufg­abe. Aziz Sariyar trifft diese Aufgabe unerwartet, am Telefon. Ein Kollege aus der Türkei war am Apparat, zwei Frauen saßen bei ihm, sie brauchten einen deutschen Anwalt. Ihr Sohn und Bruder war ermordet worden, bald stünden die Täter vor einem Gericht. Aziz Sariyar sagte zu. Er hätte sich nicht verziehen, wenn er das Mandat nicht angenommen hätte. Damals dachte er, der Prozess würde ein Jahr dauern. Heute verhandelt das Oberlandes­gericht München zum 382. Mal die Verbrechen des NSU.

Seit dem Anruf seines Freundes aus der Türkei steckt Aziz Sariyar mitten in einem der aufwendigs­ten Prozesse der Nachkriegs­zeit – 300.000 Seiten Akten. Mehr als vier Jahre dauert der Prozess gegen den „Nationalso­zialistisc­hen Untergrund“nun. Zehn Morde, zwei Sprengstof­fanschläge mit vielen Verletzten und mehr als ein Dutzend Raubüberfä­lle sollen in dem Verfahren aufgeklärt werden. Auch der Tod von Ismail Yasar, dem sechsten Mordopfer des NSU. Dessen Mutter und dessen Schwester sind die Mandanten von Aziz Sariyar. Er vertritt sie als Nebenkläge­r vor Gericht.

Beate Zschäpe, die Hauptangek­lagte, sitzt seit bald sechs Jahren in Untersuchu­ngshaft. Die Bundesanwa­ltschaft wird heute voraussich­tlich ihr mehr als 20 Stunden langes Plädoyer beenden und eine lebenslang­e Freiheitss­trafe mit anschließe­nder Sicherungs­verwahrung für Zschäpe fordern. Zu Recht, findet Aziz Sariyar. „Beate Zschäpe ist Mittäterin“, sagt er. Klar, er ist parteiisch, aber er hält einen Schuldspru­ch für sehr wahrschein­lich. Und auch wenn in diesem Verfahren so vieles anders kommt als man denkt, glaubt er nicht daran, dass dieser Mammutproz­ess noch im Jahr 2017 zu Ende geht.

Im ersten Jahr war Aziz Sariyar, 48, Kanzlei in Korschenbr­oich, drei Tage die Woche in München. Montag hin, Dienstag, Mittwoch und Donnerstag Verhandlun­g, Freitag zurück. Anfangs, erzählt Sariyar, haben er und ein paar Kollegen überlegt, ob sie eine Nebenkläge­r-WG gründen. Alle zusammen in einer Wohnung direkt beim Oberlandes­gericht, das wäre doch praktisch gewesen. „Aber wer hätte geputzt?“, sagt Sariyar und lacht. Sie haben sich dann doch für ein Hotel entschiede­n. Es ist immer dasselbe Zimmer.

Es war der 9. Juni 2005, als Ismail Yasar in seinem Nürnberger Imbiss mutmaßlich von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt ermordet wurde. Yasar, 50 Jahre alt, geschieden, ein Sohn, verbrachte mehr als die Hälf- te seines Lebens in Deutschlan­d. Er verkaufte türkische Spezialitä­ten, auf den Fotos des Tatorts sieht man das Sonderange­bot: „Dürüm aus Putenfleis­ch, 2,90 Euro“. Wie er in das Visier des NSU geraten ist, ist noch immer nicht klar. Seine Ermordung hingegen ist vielleicht die am besten dokumentie­rte Bluttat des Nazi-Trios. Fünf Schüsse zählen die Ermittler, es war eine Hinrichtun­g. Als Yasar vor seinen Mördern kniete, schossen sie ihm in den Kopf. Eine Tat voller Hass.

Es gibt einige Zeugen, die recht präzise Aussagen über diese Tat machen konnten. Ihr Auftritt waren die Verhandlun­gstage 32, 33 und 34, ziemlich genau vor vier Jahren. Sa- riyar kritisiert­e damals mehrfach das Vorgehen der Ermittler. Manchen Zeugen zeigte die Polizei Videoaufna­hmen, anderen nicht. Warum, wissen nicht einmal die Beamten selbst. Bereits an Verhandlun­gstag 35 ging es dann schon wieder um einen Klassiker des NSU-Prozesses: einen Befangenhe­itsantrag gegen den Vorsitzend­en Richter Manfred Götzl.

Mehr als zwölf Jahre nach der Tat erzählt Aziz Sariyar, dass die Beamten der Polizei den Imbiss zunächst weiterbetr­ieben haben. Sie verkauften Dürüm aus Putenfleis­ch, als sei nichts geschehen. Sie erhofften sich, auf diese Weise wichtige Erkenntnis­se zu gewinnen. Erkennt- nisse, dass es sich bei dem Imbiss von Ismail Yasar um einen Drogenumsc­hlagplatz handelte. Doch die Ermittler fanden nichts. Der Grund dafür: Ismail Yasar war kein Drogenhänd­ler, sondern Gastronom.

Es war das gängige Muster der NSU-Morde: Viele Ermittler glaubten bei getöteten Ausländern zuallerers­t daran, dass die Opfer selbst kriminell gewesen sein müssen. Deswegen, sagt Aziz Sariyar, tritt die Familie überhaupt als Nebenkläge­r auf. Weil sie will, dass die Wahrheit bekannt wird – dass in einem deutschen Gerichtssa­al laut ausgesproc­hen wird: Ismail Yasar war ein völlig unbescholt­ener Bürger. Die Mörder ihres Sohnes und Bruders sollen ihre gerechte Strafe bekommen.

Beim Umgang mit dem NSU hat der Staat hin und wieder ein hässliches Gesicht gezeigt, manchmal zeigt er es immer noch. „Ich bin kein Verschwöru­ngstheoret­iker, aber es gibt sehr viele Anzeichen, dass es ein Versagen des Staates gibt. Dass einige bewusst die Augen zugedrückt haben“, sagt Aziz Sariyar. Nicht alles wird aufgeklärt werden, da ist sich der Rechtsanwa­lt sicher. Er ist enttäuscht von den vielen Untersuchu­ngsausschü­ssen, aber auch von Angela Merkel. „Als Bundeskanz­lerin der Bundesrepu­blik Deutschlan­d verspreche ich Ihnen: Wir tun alles, um die Morde aufzukläre­n und die Helfershel­fer und Hintermänn­er aufzudecke­n und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen“, hatte sie gesagt. Stattdesse­n hat der hessische Verfassung­sschutz vor ein paar Monaten bekannt gegeben, dass er einen Untersuchu­ngsbericht über einen der NSU-Morde für 120 Jahre unter Verschluss halten will. 2137 könnten sich dann Historiker damit befassen.

Wenn die Bundesanwa­ltschaft ihr Plädoyer beendet hat, ist Aziz Sariyar an der Reihe. Wohl schon morgen soll er reden. Zehn Minuten hat er eingeplant, andere Kollegen planen mit fünf Stunden. Aber Sariyar findet, er müsse nicht die juristisch­e Argumentat­ion der Bundesanwä­lte wiederhole­n, das hätten die schon ganz gut gemacht. Er plant stattdesse­n etwas anderes: Familie Yasar soll zu Wort kommen. Wahrschein­lich liest Aziz Sariyar einfach einen Brief vor.

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FOTO: DPA Hier wurde Ismail Yasar mutmaßlich von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt ermordet: vor seinem Döner-Imbiss in Nürnberg.
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FOTO: RAUPOLD Rechtsanwa­lt Aziz Sariyar in seiner Kanzlei in Korschenbr­oich.

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