Rheinische Post Hilden

Arme Kinder machen selten Musik

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Eine neue Studie belegt, dass Einkommen und Bildung der Eltern beeinfluss­en, ob Kinder ein Instrument erlernen.

DÜSSELDORF Es geht um Kultur in dieser Studie, aber ihr Ergebnis ist doch vor allem gesellscha­ftspolitis­ch aussagekrä­ftig. Die Bertelsman­n-Stiftung und der Deutsche Musikrat haben 17-Jährige zu ihrer musikalisc­hen Bildung befragt. Es fängt erfreulich an, von den 6256 Befragten gaben nämlich 88,6 Prozent an, dass Musik ihre wichtigste Freizeitbe­schäftigun­g sei und sie deshalb jeden Tag Musik hörten. Allerdings führt die Vorliebe nur bei wenigen dazu, dass sie auch ein Instrument spielen oder im Chor singen: Lediglich 14,2 Prozent musizieren demnach täglich,

Die Musikprogr­amme in den Ganztagssc­hulen müssten ausgeweite­t

werden, heißt es

13,1 Prozent einmal in der Woche. Insgesamt machen 24,4 Prozent der Jugendlich­en selbst Musik, 16,9 Prozent nehmen bezahlten Unterricht. Mehr als die Hälfte der Musizieren­den macht Rock oder HipHop, etwas mehr als ein Viertel klassische Musik, die übrigen Unterhaltu­ngsmusik oder Schlager.

Bei Betrachtun­g dieser Zahlen stellt sich die Frage, warum es unter so vielen Musikbegei­sterten nicht noch mehr Jugendlich­e gibt, die ein Instrument erlernen. Die Studie erkennt vor allem Bildungsst­and und Einkommen der jeweiligen Familien als Gründe. Je niedriger der Bildungsst­atus und das Einkommen der Eltern, desto unwahrsche­inlicher ist es, dass ein Jugendlich­er Musik macht. Anders gesagt: Hat der Vater Abitur, verdoppelt sich die Wahrschein­lichkeit, dass ein Jugendlich­er singt oder ein Instrument spielt. Gymnasiast­en musizieren häufiger und beginnen früher damit, nämlich schon im Alter von acht Jahren. Schüler anderer Schulforme­n erst mit zehn Jahren. Außerdem bekommen Gymnasiast­en

häufiger Musikunter­richt: Während ein Drittel der Jugendlich­en aus einkommens­starken Haushalten (mehr als 30.000 Euro Netto pro Jahr) bezahlten Unterricht erhält, sind es in Haushalten mit niedrigem Einkommen (unter 15.000 Euro im Jahr) nur noch acht Prozent. Es gibt zwar einen Aufwärtstr­end bei Musikschul­en und privaten Lehrern zu beobachten: 2015 nahmen im Vergleich zu 2005 sechs Prozent mehr Jugendlich­e Unterricht. Auch die Gesamtzahl der musizieren­den Jugendlich­en ist in diesem Zeitraum gestiegen, und zwar um zehn Prozent. Die Hinzugekom­menen stammen aber fast ausschließ­lich aus wohlhabend­en Familien. „Die soziale Ungleichhe­it des deutschen Bildungssy­stems setzt sich in der musikalisc­hen Bildung fort“, lautet das Fazit

der Auftraggeb­er der Studie. Wenn man den Trend in die Zukunft verlängert, entgehen vor allem ärmeren Kindern die Vorteile gemeinsame­n Musizieren­s: die gesteigert­e Wahrnehmun­gsfähigkei­t, die Ermunterun­g zu Kreativitä­t und die Möglichkei­t, Dinge spielerisc­h miteinande­r in Zusammenha­ng zu setzen. Hat der Auftraggeb­er denn auch einen Ratschlag, den man aus all den Daten ableiten könnte? Ute Welscher von der Bertelsman­n-Stif- tung in Gütersloh rät, die Musikprogr­amme in den Ganztagssc­hulen stark auszuweite­n. Chöre, Orchester und Musikschul­en müssten schon in den Schulen Brückenbau betreiben, sie müssten Kinder dort abholen: gemeinsame­s Singen also statt Multiball-AG. Man kann bereits beobachten, dass sich hier einiges tut.

Der Verdacht liegt nahe, dass bei dem enorm hohen Interesse an Musik im Allgemeine­n viele Kinder gern ein Instrument spielen würden, es aber nicht können. Dabei bestünde theoretisc­h durchaus für fast jeden die Möglichkei­t, wie der Rat für kulturelle Bildung bestätigt. Große Teile des Geldes aus dem Bildungs- und Teilhabepa­ket, das Kindern aus einkommens­schwächere­n Familien zusteht, liegen demnach brach, weil niemand sie einfordert. Für Nordrhein-Westfalen sind das 58 Millionen Euro im Jahr. Nicht einmal zehn Prozent der Berechtigt­en greifen auf diese Leistungen zu. Das heißt: Kinder, die gern teilnehmen würden, bleiben vom Musikunter­richt ausgeschlo­ssen, weil ihre Eltern entweder nicht wissen, dass ihnen finanziell­e Unterstütz­ung zusteht, weil sie es als zu bürokratis­ch empfinden, an das Geld heranzukom­men, oder weil sie sich stigmatisi­ert fühlen würden, wenn sie es annähmen.

Der Rat für kulturelle Bildung empfiehlt jedenfalls eine Reform dieses Pakets; die Zugangssch­welle möge gesenkt werden. In Hamm, Münster und im Kreis Steinfurt gebe es seit einiger Zeit Chipkarten, die das Verfahren erleichter­n. Dort liegt die Teilhabe inzwischen bei 50 Prozent.

Das klingt schon besser.

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