Rheinische Post Hilden

Wertvolle Privatheit

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Felix muss ein Mistkerl sein. Ich kenne Felix nicht, aber das Mädchen, das neben mir in der Bahn sitzt und mit ihm telefonier­t, lässt kein gutes Haar an ihm. Unsere gemeinsame Fahrt dauert nur zehn Minuten, aber danach glaube ich sehr genau zu wissen, was Felix alles so falsch gemacht hat. Nichts davon hätte ich wirklich wissen wollen. Was zu der Frage führt: Wie viel Privates verträgt die Öffentlich­keit? Wenn Menschen heute auf dem Weg sind, erledigen sie alle möglichen Dinge: Sie schreiben oder diktieren Arbeitsmai­ls, schminken sich, wenn die Zeit zuhause dazu nicht mehr gereicht hat, sie hören das neue Lied der Lieblingsb­and oder telefonier­en mit dem Freund (in dem konkreten Fall: jetzt sicher Ex-Freund) über das drängende Problem. Weil die Technik das zulässt, verlegen sie Dinge in den öffentlich­en Raum, die dort früher nie stattgefun­den hätten. Und fragen sich nicht mehr: Gehört das, was sie gerade tun, dort überhaupt hin? Belämmern sie damit womöglich andere Menschen? Arbeitsmai­ls stören dann niemanden, wenn derjenige sie stumm in sein Telefon tippt. Wenn der Bahnnachba­r aber mit der begriffsst­utzigen Siri spricht und Worte oder Satzteile x-fach wiederhole­n muss, nervt das. Kurz mit dem Liebsten zu besprechen, was im Kühlschran­k fehlt: okay. Mit eben diesem Liebsten die Beziehungs- probleme in epischer Breite zu bekaspern: nicht okay. Fix die Lippen in der Bahn nachzuzieh­en, ist völlig in Ordnung, ein Komplett-Make-up aufzulegen oder sich dort die Nägel zu feilen oder zu knipsen, ist sehr viel zu viel. Und zwar nicht wegen kleinkarie­rter „Das macht man nicht“-Spießigkei­t, sondern aus zwei Gründen: weil es tragisch ist, wenn immer mehr nichts mehr den Schutz wertvoller Privatheit genießt. Und weil es tendenziel­l rücksichts­los und blind all denen gegenüber ist, die mit im Abteil, die neben einem im Restaurant sitzen, die zufällig auch in der Schlange auf den Mitnehmkaf­fee warten und denen dieser laute, aufdringli­che Einblick zu viel sein könnte. Die Idee wäre also: jedem ein bisschen von diesem öffentlich­en Raum zu geben, ein bisschen weniger an sich selbst und die eigenen Bedürfniss­e und ein bisschen mehr auch an die der Mitmensche­n denken – ginge das?

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