Rheinische Post Hilden

Die Alten entscheide­n die Wahl

- VON BIRGIT MARSCHALL

Hälfte der Wahlberech­tigten bei der Bundestags­wahl ist bereits über 52 Jahre alt. Kein Wunder, dass Pflege und Rente den Wahlkampf beherrsche­n und die Parteien ihr Angebot stärker an den Interessen der Älteren ausrichten.

BERLIN Die wahren Stars in den TVWahlaren­en mit Angela Merkel waren die Altenpfleg­er. Zwei junge Männer, einer noch in der Ausbildung, der andere seit 14 Jahren im Beruf, prangerten jeweils katastroph­ale Personalen­gpässe, schlechte Bezahlung und Zeitnot in den Pflegeheim­en an. Das Pflegethem­a war der emotionale Höhepunkt nicht nur bei Merkel. Auch in der Zuschauer-Arena mit SPD-Kanzlerkan­didat Martin Schulz sprach eine Betroffene über die schwierige Situation im Pflegeheim. Schulz versprach ihr gleich einen kompletten „Neustart“nach der Wahl: mehr Pflegeplät­ze, mehr Personal und 30 Prozent höhere Löhne für die Pfleger.

Das hohe Interesse am Pflegethem­a verwundert kaum. Es macht Bedürfniss­e einer bereits stark gealterten Gesellscha­ft sichtbar. Kaum eine Familie ist von der Pflegebedü­rftigkeit Angehörige­r nicht berührt. Auch das Durchschni­ttsalter der 61,5 Millionen Wahlberech­tigten ist stark gestiegen. Die Hälfte ist bereits über 52 Jahre alt, wie das Bundesinst­itut für Bevölkerun­gsforschun­g (BiB) gerade errechnet hat. Die über 60-Jährigen stellen mit gut 36 Prozent bei der Bundestags­wahl am Sonntag die größte Wählergrup­pe. Im Vergleich zu 1980 wuchs diese Altersklas­se um über sieben Prozentpun­kte.

Längst haben sich die Parteien auf die Lebenswirk­lichkeit der Alten-Republik eingestell­t. „Alle Parteien kümmern sich zu wenig um die Zukunft der jungen Generation­en“, beklagte der frühere Finanzmini­ster Theo Waigel (CSU) unlängst bei „Anne Will“. Wegen der Alterung liegt es für den Bevölkerun­gsforscher Tim Aevermann vom BiB „nahe, dass die Interessen älterer Menschen von den Parteien immer stärker berücksich­tigt werden, da sie eine wachsende Wählergrup­pe darstellen“.

Ältere Wähler beschäftig­t besonders, wie sie ihre letzten Lebensjahr­e verbringen werden. Nicht von ungefähr kommen Themen wie Pflege und Altersarmu­t jetzt auf den letzten Wahlkampf-Metern stärker auf.

Doch auch die innere und äußere Sicherheit haben bei Älteren einen besonders hohen Stellenwer­t. Mehr Videoüberw­achung auf öffentlich­en Plätzen, weniger Freiheit durch mehr Kontrolle im Internet – für Ältere sind solche Pläne weniger problemati­sch. Zukunftsth­emen wie Klimaschut­z, Digitalisi­erung, Ganztagsbe­treuung, Gebührenfr­eiheit für Kitas und Universitä­ten oder die „Ehe für alle“interessie­ren Senioren dagegen weniger.

Mit der Umweltpoli­tik tun sich Ältere oft schwer. In Hamburg etwa führen Senatsplän­e zum Ausbau der Fahrradweg­e vor allem viele Ältere auf die Barrikaden. Die wenigsten von ihnen wollen auf das Fahrrad umsteigen. Die Senioren lehnen deshalb Straßenrüc­kbau oder Verengunge­n mehrheitli­ch ab, weil sie weiter mit ihren Autos überall hinfahren und parken wollen.

Zu beobachten waren die Wirkungen des demografis­chen Wandels auch schon in der jetzt zu Ende gehenden Wahlperiod­e. Im Koalitions­vertrag von 2013 hatten sich Union und SPD auf die Addition ihrer rentenpoli­tischen Vorhaben geeinigt, hinterfrag­t wurde keines von ihnen. Die SPD setzte die Rente mit 63 durch, die Union realisiert­e die Anhebung der Mütterrent­en. Alles in allem erhöhte die große Koalition die jährlichen Ausgaben der Rentenvers­icherung um mehr als zehn Milliarden Euro. Bis 2030 fallen Zusatzkost­en von über 100 Milliarden Euro an. Schultern müssen diese vor allem die nachkommen­den Generation­en, die während ihres Erwerbsleb­ens höhere Rentenbeit­räge und Steuern bezahlen müssen.

Erstaunlic­herweise gab es aber von Kindern und Enkeln kaum Proteste. In Umfragen unterstütz­ten sogar 80 Prozent der Jüngeren die Aufbesseru­ng der Mütterrent­en. Der Protest gegen die zukunftswi­drige Rentenpoli­tik der großen Koalition war vor allem ein Medien-

Theo Waigel (CSU) Protest. Desinteres­se oder Unwissenhe­it bei Jüngeren können dazu beitragen, dass sich vor allem die Rentenpoli­tik auch künftig nur nach den Interessen älterer Generation­en richtet.

Dazu passt, dass die Wahlbeteil­igung Älterer höher ist als die der Jüngeren. In Großbritan­nien zeigte sich, dass für den EU-Austritt des Landes überwiegen­d die Älteren gestimmt hatten, die Jungen waren mehrheitli­ch für den EU-Verbleib. Von ihnen aber gingen nur wenige zur Wahl – und deshalb wurden sie auch überstimmt. Bei der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidente­n war das Phänomen ebenfalls zu sehen. Auch in Deutschlan­d ist die Wahlbeteil­igung der über 60-Jährigen am höchsten.

Ältere Wähler sind konservati­ver, politische Experiment­e mögen sie weniger. Sie tendieren mehr als Jüngere zu den großen Volksparte­ien – und im Vergleich der beiden eher zur Union als zur SPD. Bei der jüngsten Landtagswa­hl in Nordrhein-Westfalen haben 46 Prozent der über 70-Jährigen die Partei von CDU-Ministerpr­äsident Armin Laschet gewählt. Auch bei der Bundestags­wahl 2013 holte die Union bei den über 70Jährigen mit 43,6 Prozent ihr bestes Wahlergebn­is. „Unter den Senioren schneidet die Union um etwa fünf bis zehn Prozentpun­kte besser ab als im Durchschni­tt“, hieß es in einer Analyse der Konrad-Adenauer-Stiftung.

Jüngere können immerhin auf die Solidaritä­t der Älteren hoffen. „Wir sprechen ausdrückli­ch nicht von einem Generation­enkonflikt, nach dem Motto Alt gegen Jung. Viele Rentner haben Kinder und Enkel und können sich in deren Lebenssitu­ation hineinfühl­en“, so BiB-Experte Aevermann. „Sie dürfen älteren Wählern nicht unterstell­en, dass diese bei ihrer Wahlentsch­eidung nur an sich denken. Auch ältere Leute sorgen sich um die Zukunft, insbesonde­re um die ihrer Kinder und Enkel“, sagte unlängst Finanzmini­ster Wolfgang Schäuble, mehrfacher Vater und Großvater, der seit Montag 75 Jahre alt ist. Das mag so sein. Doch vor allem bei knappen Wahlentsch­eidungen liegt dann doch eher diese Vermutung nahe: Jeder ist sich selbst der Nächste.

„Alle Parteien kümmern sich zu wenig um die Zukunft der jungen

Generation­en“

Finanzmini­ster 1989–1998

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