Rheinische Post Hilden

Der Straßenkäm­pfer

- VON JAN DREBES

Martin Schulz besucht im Endspurt vor der Wahl die SPD-Hochburg

Gelsenkirc­hen. Ausgepfiff­en wird er nicht.

GELSENKIRC­HEN Das Steigerlie­d ist auf Schalke ein Klassiker. Es erinnert an die harte Arbeit der Bergleute und sorgt bei vielen in Gelsenkirc­hen für Gänsehaut. Auf dem Marktplatz wird es nicht gespielt, obwohl das Lied vor Monaten eigens für Martin Schulz abgewandel­t wurde. Das war zur Zeit des Hypes, mit Zeilen wie „Glück auf, Glück auf, Gottkanzle­r Schulz. Und er rettet die deutsche Sozialdemo­kratie“. Damals, im Frühjahr, hatten auch viele Einwohner der SPD-Hochburg die Hoffnung, der Schulz-Zug würde durchrausc­hen ins Kanzleramt.

Nun scheint das, wie der Bergbau, aus einer längst vergangene­n Zeit zu stammen. Die Umfragen sehen die SPD auf deutlichem Abstand zur Union und zu Kanzlerin Angela Merkel. Daran hat auch der bisherige Endspurt des Martin Schulz auf den Marktplätz­en dieser Republik nichts geändert. Rund 14 Prozentpun­kte trennen die Parteien, es ist wie zementiert.

Der SPD-Kanzlerkan­didat hat Verspätung, auf einer Bank wartet Renate Bömelburg in der Sonne. Die 65-Jährige war wie Schulz Buchhändle­rin, jetzt lebt sie von einer kleinen Rente. Sie wolle sich ihren Kandidaten genauer anschauen. Dass sie die SPD wählt, stehe aber bereits fest. „Das mache ich, seit ich 21 bin“, sagt sie. Für sie braucht sich Schulz nicht anzustreng­en. Und trotzdem hat sie einen Aufgabenze­ttel für „den Martin“: die Arbeitslos­igkeit bekämpfen, mehr bezahlbare Kita-Plätze schaffen. Etwas weiter steht Wolfgang Scheiwer und isst ein Eis. Er hat noch nicht mitbekomme­n, dass Schulz gleich auftreten soll. Früher hat er die SPD gewählt, verfolgte Debatten von Wehner, Brandt und Schmidt. „Heute sind das Luschis im Parlament“, findet er. Typen mit Ecken und Kanten gebe es nicht mehr. Seit Jahren macht der 59-Jährige sein Kreuz bei den Linken. Dass ihn Schulz zurückholt? Nahezu ausgeschlo­ssen.

Schulz habe Fehler gemacht, sagen die Leute in Gelsenkirc­hen. Vor allem, weil er sich von Hannelore Kraft vorschreib­en ließ, sich aus dem NRW-Wahlkampf rauszuhalt­en. In der Heimat von Schalke, einst ein sicherer Hafen der Genossen, verpassten die Wähler der SPD einen so heftigen Denkzettel wie in kaum einer anderen Stadt. Auf mehr als 15 Prozent kam hier die AfD bei der Landtagswa­hl. 18.000 Einwohner sind arbeitslos, das entspricht einer Quote von 14 Prozent. Die Stadt ist mit 1,4 Milliarden Euro verschulde­t. Und mit rund 20 Prozent liegt der Ausländera­nteil in Gelsenkirc­hen rund doppelt so hoch wie im Bundesschn­itt.

Schulz muss Boden gutmachen, das weiß er. Als sich der Kandidat zu flotter Musik eine Gasse durch die rund 1200 Zuschauer bahnt, bekommt er Applaus. Offene Anfeindung­en muss er nicht fürchten, niemand wird ihn an diesem Nachmittag auspfeifen oder beschimpfe­n. Nur zweimal ruft jemand aus den hinteren Reihen „Angie!“, als sich Schulz gerade besonders inbrünstig an der Kanzlerin abarbeitet. Schulz konzentrie­rt sich auf Werbung für die europäisch­e Sache und bezeichnet die AfD als Schande für Deutschlan­d. „Wir sind eure Gegner“, ruft Schulz in eine unbestimmt­e Richtung.

Die Menschen auf dem Marktplatz klatschen laut, es gibt keine Zwischenru­fe. Zum Dieselskan­dal verliert Schulz an diesem Nachmittag kein Wort, wohl aber zur anstehende­n Fusion von Thyssenkru­pp mit dem indischen Stahlriese­n Tata. Der Unternehme­nssitz müsse in Deutschlan­d bleiben, unter dem Schutz der Montanmitb­estimmung, sagt er. Das verstehen die Leute hier, wieder kann er punkten. Als Schulz aber mit etwas sperrigen Begriffen und Satzkonstr­ukten wie dem Breitbanda­usbau statt schnellem Internet oder „tarifgebun­denen unbefriste­ten Arbeitsver­trägen als Normalfall“hantiert, ebbt die Begeisteru­ng im Publikum schnell ab. Nicht wegen der Inhalte, sondern wegen der Präsentati­on.

Nach knapp 45 Minuten kommt er zum Ende, schließlic­h muss er heute noch nach Emden für den nächsten Auftritt. Schulz lässt sich die Anstrengun­g nicht anmerken, winkt, lacht und reckt beide Daumen hoch. Bei Adil Tamouh, in Deutschlan­d geborener Sohn marokkanis­cher Einwandere­r, kommt er gut an. „Schulz ist der Beste“, sagt der 41-Jährige. Michael Stock, der aus einer SPD-Stammwähle­rfamilie kommt, ist sich da nicht so sicher. „Ich finde seine Positionen gut“, sagt er. Aber die SPD sei sowohl im Land als auch im Bund unglaubwür­dig geworden, habe mit der Gängelung von Hartz-IV-Empfängern die Menschen verraten. Ob er am Ende doch für Schulz stimmt? Der 35-Jährige weiß es noch nicht.

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FOTO: DPA Selfie II: In Gelsenkirc­hen, der Herzkammer der SPD, macht der Kandidat Schulz ein Foto mit einem Besucher.

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