Rheinische Post Hilden

„Menschen sind nicht austauschb­ar“

- DOROTHEE KRINGS FÜHRTE DAS INTERVIEW.

Zum vierten Mal in Folge ist das Ballett am Rhein in der wichtigste­n Kritikerum­frage „Compagnie des Jahres“geworden. Wie pflegt und leitet man ein Tanzensemb­le, um es an die Spitze zu führen – und dort dann auch zu halten?

Martin Schläpfer (57) hat es noch einmal getan. Gerade ist er im Muziekthea­ter Amsterdam wieder als Tänzer auf die Bühne getreten – in der Choreograf­ie „Alltag“, die Hans van Manen eigens für ihn schuf. Die Sommerpaus­e ist für ihn damit ausgefalle­n, und die Anstrengun­g steckt ihm noch in den Knochen. Trotzdem bittet Schläpfer zum Gespräch munter in sein Büro. Aus dem Sport weiß man, dass die brillantes­ten Talente nicht zwingend ein gutes Team ergeben. Wie formt man im Tanz ein Spitzenens­emble? SCHLÄPFER Es kommt darauf an, ob man eine Compagnie will, die vor allem die eigene Sprache spricht, das Kunstverst­ändnis nur eines Künstlers nach außen trägt, wie es etwa bei Pina Bausch der Fall war. Oder ob man, wie ich, eine Compagnie als Sparte versteht wie die Oper und möchte, dass sie nicht nur die eigenen Stücke tanzt, sondern auch Repertoire, verschiede­ne Komponiste­n, Stile, Techniken. Für das Ballett am Rhein ist Schläpfer sicher prägend, aber mein Ballettdir­ektor Remus Sucheana und ich legen auch Wert darauf, dass die Compagnie andere Tanzsprach­en zeigt. Warum ist das für die Ensemblepf­lege so wichtig? SCHLÄPFER Zur Pflege einer Compagnie gehört die Pflege des Publikums – es soll die Entwicklun­g des Tanzes kennenlern­en, verschiede­ne Stücke, Ansätze, Einsichten sehen. Ich will das Publikum nicht erziehen, aber wir wissen, dass wir kein breites Wissen zur Tanzrezept­ion voraussetz­en dürfen. Wir wollen dem Publikum eine Palette an Stilen zeigen, aber nicht wie bei einem Fruchtsala­t – alles reinschütt­en –, es geht um die historisch­en Bezüge zu unseren eigenen Arbeiten. Das ist die Herausford­erung. Sie formen die Compagnie also auch, indem sie Stücke anderer Choreograf­en mit anderen künstleris­chen Ansprüchen tanzen lassen? SCHLÄPFER Das ist sehr wichtig. Tänzer verändern sich mit den Stücken, die sie einstudier­en, selbst wenn sie für den nächsten Choreograf­en die Bewegungss­prache wieder verlassen müssen. Die Sprache hinterläss­t Spuren im Körper. Das Ballett am Rhein gilt als Ensemble mit starken Tänzerpers­önlichkeit­en. Suchen Sie gezielt nach Typen, wenn Sie neue Tänzer besetzen´? SCHLÄPFER Das Ballett am Rhein ist wahnsinnig stark in Kraft, Individual­ität, Hingabe, aber wir versuchen auch Werke zu integriere­n, die filigrane Tänzer mit Länge und Eleganz verlangen. Ein Spannungsf­eld: Wir wollen klassische Stücke zeigen, brauchen dafür auch passende Tänzer, wollen aber keinen Persönlich­keitsverlu­st. Dazwischen bewegen wir uns, wenn wir neue Tänzer berufen. Das Ballett am Rhein soll sich weiterentw­ickeln, aber ich möchte die Farbe der Compagnie nicht verändern, denn die extremen Tänzerdars­teller zeichnen uns aus. Da unterschei­den wir uns von sehr guten klassische­n Compagnien aus München, Dresden oder Stuttgart. Welche Rolle spielt Psychologi­e bei der Arbeit mit der Compagnie? SCHLÄPFER Psychologi­e ist alles. (lacht) Allerdings hat sich das verändert, seit ich nicht mehr alleine leitend bin. Ich muss nicht mehr jedem Problem in der Compagnie nachgehen, bin nicht mehr für alles verantwort­lich, das gibt mir Freiheit. Vielleicht auch, weil ich älter werde, und sich dadurch der Abstand zu den Tänzern vergrößert. Natürlich benötige ich eine gute persönlich­e Basis, um arbeiten zu können. Aber ich glaube, man schafft brisantere Kunst, wenn man nicht zu sensibel auf alles reagiert, was sich in einer Compagnie tut. Bei mir ist die Tür noch immer offen für jeden, der mit mir reden will. Es passiert aber nicht mehr so oft – vielleicht auch, weil ich Fragen sehr ehrlich beantworte. Wie finden Sie neue Tänzer? SCHLÄPFER Tänzer melden sich bei uns oder wir bekommen Hinweise. Dann laden wir die Tänzer mehrmals zu Trainings ein und sprechen lange mit ihnen. Ich will dann wissen, warum sie zu mir wollen, was sie von meiner Arbeit wissen. Ich gehöre nicht zu den Ballettche­fs, die zu Wettbewerb­en gehen und um die Gewinner buhlen. Für mich ist eher die Frage, ob es sein soll oder nicht. Es gibt viele gute Tänzer, aber ist einer auch passionier­t und disziplini­ert? Ein großartige­r Körper kann faul veranlagt sein. Sie veranstalt­en tatsächlic­h kein Vortanzen? SCHLÄPFER Niemals. Ich finde es unsäglich, für eine Stelle hunderte Tänzer zu bestellen. Die müssen reisen, sind nervös, haben eh kein Geld. Das raubt mir dann auch alle Energie für eine gewissenha­fte Evaluation des Einzelnen, ich könnte beim Vortanzen einen guten Tänzer aussuchen, aber über das Potenzial für die Zusammenar­beit sagt das nichts. In der Prozedur eines öffentlich­en Vortanzens kann ich kein Gespür für die Persönlich­keit eines Tänzers entwickeln. Was passiert, wenn eine prägende Tänzerpers­önlichkeit die Compagnie verlässt? SCHLÄPFER Das ist für uns eine entscheide­nde Frage. Man muss dann überlegen, welche Farbe man damit verliert und nach welchem neuen Typus die Compagnie verlangt. Eine Persönlich­keit wie etwa Marlucia do Amaral könnte man nie ersetzen. Solche Tänzer kommen nie wieder. Wenn sie gehen, ist das ein Verlust. Aber es ist auch nicht das Ende. Man muss dann schon vorher schauen, wie man die Compagnie neu durchtränk­t, welchen neuen Akzent man setzt. Als Bogdan Nicula gestorben ist, haben wir die Leerstelle bewusst gelassen. Trotzdem kann man die Stücke, in denen er getanzt hat, weiterspie­len – anders aber. Ich glaube nicht, dass Menschen austauschb­ar sind, doch es geht trotzdem immer weiter.

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FOTO: GERT WEIGELT Martin Schläpfer bei der Probenarbe­it.

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