Rheinische Post Hilden

„In der Popmusik entsteht nichts Neues“

- PHILIPP HOLSTEIN FÜHRTE DAS INTERVIEW.

Der 65-Jährige führt seine Kompositio­n „E2 E4“in der Tonhalle auf. Sie wurde – vom Künstler unbeabsich­tigt – zur Urschrift des Techno.

Manuel Göttsching gehört zu jener Generation deutscher Musiker, die in den 1970ern unter der Genrebezei­chnung „Krautrock“in ungehörte kosmische Bereiche vorstieß und dafür vor allem im Ausland verehrt wird. Als der englische „Guardian“den Berliner jüngst porträtier­te, lautete die Überschrif­t „The Göttfather“. 1970 gründete Göttsching mit Klaus Schulze die Gruppe Ash Ra Tempel. 1984 veröffentl­ichte er das 60 Minuten lange Stück „E2 E4“. Es inspiriert bis heute Musiker wie LCD Soundsyste­m und gilt als Urschrift des Techno. Am 16. November führt Göttsching es im Rahmen des Festivals „Die Digitale“in der Tonhalle auf. Der Musikmarkt ist sehr nostalgisc­h. Vor allem Neuauflage­n von Platten aus den 70er Jahren werden heftig bejubelt. Woran liegt das? GÖTTSCHING Das war eine interessan­te Zeit. Es ging um Politik, Folk, Rock und Elektronik. Sehr kreativ und vielseitig. Und neben viel Blödsinn sind tolle Sachen entstanden. Die Musiker wollten eine eigenständ­ige deutsche Musik etablieren. Die Kultur lag ja nach dem Krieg am Boden, und erst in den 1960ern kam eine Generation, die etwas Verrücktes machte. Das Meiste war selbstgeba­stelt, niemand machte das, um Geld zu verdienen oder einen Markt zu bedienen. So hatten auch Sachen eine Chance, die anderswo wegen mangelnder Wirtschaft­lichkeit wohl nicht erschienen wären. Für ihr Stück „E2 E4“werden Sie heute als Techno-Pionier verehrt.

GÖTTSCHING Ja, verrückt. Warum verrückt? GÖTTSCHING In Deutschlan­d gab es zunächst nur üble Reaktionen auf „E2 E4“. Ein Rezensent empfahl mir, Depeche Mode zu hören, die würden das richtig machen. Später habe ich erfahren, dass Daniel Miller, der Manager von Depeche Mode, zu einem unserer Ash-Ra-Konzerte nach London gekommen war, weil unsere Musik eine so große Inspiratio­n für ihn darstellte. Der Erfolg des Stücks kam über Amerika. Dort wurde es in den Clubs gespielt. Ich konnte mir das erst nicht vorstellen, weil man doch gar nicht dazu tanzen kann. Es gibt ja nicht mal eine Bassdrum. Hatten Sie Kontakt zur Clubszene? GÖTTSCHING Das ist nicht meine Welt. Meine Musik ist die Minimal Music von Steve Reich und Terry Riley. Das Repetitive dieser Musik wollte ich mit elektronis­chen Mitteln umsetzen. Der New Yorker DJ Larry Levan hat „E2 E4“dann im Club „Paradise Garage“gespielt – in voller Länge. So ging es um die Welt. Sie haben früh mit Synthesize­rn experiment­iert. Welche Rolle spielt die Technologi­e für Ihre Musik? GÖTTSCHING Schon eine große Rolle. Aber letztlich ist allein die Musik wichtig. Die ist gut, wenn man sie pfeifen oder auf dem Kamm blasen kann. Mich hat allerdings immer interessie­rt, was man mit neuen Technologi­en machen kann. Es geht mir dabei aber nicht um Klangforsc­hung, sondern stets um die Musik. Um Dramaturgi­e etwa. Und die ist bei „E2 E4“sehr gut, damit bin ich noch heute sehr zufrieden. Sie haben „E2 E4“erst drei Jahre nach der Entstehung 1981 veröffentl­icht. Konnten Sie es nicht verkaufen? GÖTTSCHING Ich hatte einen Vertrag mit Virgin. Die waren in kurzer Zeit zu einer Mainstream-Firma geworden. Ich befürchtet­e, sie würden mein Stück im Keller verstauben lassen: zwei Akkorde, die sich abwechseln – über 60 Minuten hinweg! Ich kannte Virgin-Chef Richard Branson gut. Dem spielte ich das Stück vor. Er hatte gerade sein Baby im Arm, und es schlief zur Musik ein. Branson sagte: Damit kannst Du ein Vermögen machen! Er hätte es also gekauft. Aber ich habe anders entschiede­n und es bei dem Label von Klaus Schulze herausgebr­acht. Warum sind Wiederholu­ngen so schön in der Musik? GÖTTSCHING Weil Musik eine einzige Wiederholu­ng ist. Ein Ton ist eine Welle und basiert auf der Wiederholu­ng einer Kurve. Der simpelste elektronis­che Ton basiert auf einer Sinuskurve. Wiederholu­ngen haben eine Magie, sie ziehen in die Musik hinein. Wie funktionie­rt „E2 E4“live? GÖTTSCHING Ich bin alleine, das ist ja ein Solostück. Im Original habe ich das ganze Tonstudio benutzt. Die Aufnahme ist in einer Stunde entstanden, und danach habe ich daran nichts mehr verändert. Ich brauchte Sequenzer, Tonbandger­äte und Synthesize­r. Heute benutze ich die Software Ableton, die es mir ermög- licht, das alles am Computer zu ersetzen. Ich verwende Originalte­ile des Stücks und lege dazu aktuelle Sounds aus dem Laptop, die ich live bearbeite. Ich brauche also Laptop, Keyboard und Gitarre. Das genügt. Wie bewerten Sie aktuelle Musik? GÖTTSCHING Ach, allzu viel entwickelt sich gerade nicht. Wenn Sie sich früher einen Mini-Moog gekauft haben, kostete der so viel wie ein VW Käfer. Und dann hatte man den Mini-Moog zuhause, und da kam erstmal kein Ton raus. Also musste man experiment­ieren. Heute kostet ein Keyboard 100 Euro, es ist alles programmie­rt, und sie können sofort anfangen. Aber was die Leute da rausholen, geht immer in Richtung Dance Music. Ich vermisse so etwas wie die Minimal Music, etwas Neues, eine Erfindung. Das kann man alles machen heute. Aber die Leute machen es nicht.

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FOTO: AGENTUR Manuel Göttsching wurde mit der Band Ash Ra Tempel bekannt.

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