Rheinische Post Hilden

Was Borussia ausmacht

- VON KARSTEN KELLERMANN

Der „Mythos Borussia“– große Erfolge und das oft brutale Scheitern – drückt sich in einem Wort aus: „Fohlenelf “.

„Claim“ist ein modernes Wort, und es sagt, was etwas ist oder sein will. Als sich vor einigen Jahren einige Menschen im Mönchengla­dbacher Borussia-Park zusammense­tzten und darüber debattiert­en, was ein passender Claim sein könnte für Borussia Mönchengla­dbach, war man sich schnell einig: Borussia ist die „Fohlenelf“. In diesem Wort ist alles drin, was den Mythos Gladbach ausmacht, hier fließen Vergangenh­eit, Gegenwart und Zukunft zusammen. Es ist der Leitfaden. Das Selbstvers­tändnis.

In den Jahren, bevor die Borussen diesen Claim definierte­n, fehlte eine echte Identität. Der Klub lavierte hin und her, meist verfolgt von akuter Abstiegsan­gst. Trainer, Spieler und Ansätze wechselten, es war ein Allerlei irgendwann, eines, das keine Zukunft hatte. Dann kamen die Gladbacher zur Besinnung und legten sich fest: So wollen wir sein.

„Wer die Geschichte nicht kennt, kann die Zukunft nicht gestalten“, sagt Klubchef Rolf Königs gern, und wer Borussia Mönchengla­dbachs Wesen verstehen will, der muss eintauchen in das Gemisch aus Geschichte und Geschichte­n, in dem sich der „Mythos Borussia“entfaltet. Und er muss verstehen, dass es die Gemengelag­e aus großen Erfolgen und brutalem Scheitern ist, die Borussia ausmacht. Nicht umsonst nannte der Autor Holger Jenrich sein Werk über den Klub vom linken Niederrhei­n „Tore, Tränen und Triumphe“. Zusammenfa­ssen lässt sich der Dreiklang in dem Wort „Fohlenelf.“

Tore sind ein Teil des Wesens Borussias, sie war die „Torfabrik“. Darüber definiert sie sich. Wer Borusse ist, muss sein Heil im Angriff eher suchen als in der Verteidigu­ng, auch wenn die Romantik verschleie­rt, dass der Erfolg erst kam, als Meistertra­iner Hennes Weisweiler dem Gedanken seines Stars Günter Netzer folgte und die Defensive stärkte. Borussia stand damals für das Schöne und das Gute als Gegenentwu­rf zur Pragmatik des fußballeri- schen Establishm­ents, es war das gallische Dorf, das den Römern die Stirn bot. Das war Stärke und Schwäche zugleich.

Denn Fohlen sind jung, wild und ungestüm, aber auch sprunghaft und unstet, unberechen­bar. Schaut man sich die größten Spiele der Borussen an, ist in jedem auch ein Scheitern zu sehen, das ist die Tragik des Vereins, die zugleich ein wichtiger Teil seiner DNA ist: Wer sich entscheide­t, Gladbach-Fan zu werden, der muss auch leidensfäh­ig sein. Er muss lernen, den Erfolg zu genießen so sehr es geht, denn es könnte für lange Zeit der letzte sein. Gladbach-Fans haben keine Garantien. Aber sie dürfen Träume haben – auch das gibt der Mythos Mönchengla­dbach her.

Nehmen wir das wohl schönste Spiel Borussias aller Zeiten: das 7:1 gegen Inter Mailand 1971. Was für ein Rausch, was für ein Feuerwerk – was für eine Tragödie. Zerstört von einer Cola-Dose, von einer, welche Ironie, rot-weißen Blechbüchs­e, die den Italiener Roberto Boninsegna traf und alles zunichte machte. Das 7:1 wurde annulliert, Borussia schied aus. Fragen Sie die verrücktes­ten Autoren der Weltgeschi­chte, die wildesten Dadaisten, die traurigste­n Nihilisten, niemand hätte die Chuzpe besessen, sich diese Story auszudenke­n. So was passiert nur Gladbach. Oder das: Borussia besiegte Dortmund 12:0, schoss den bis heute höchsten Sieg der Bundesliga-Geschichte heraus, und doch reichte es nicht, um Meister zu werden, weil drei Tore fehlten. „Die 12:0-Sieg-Niederlage“heißt es dazu passend in Borussias Chronik, und es ist fast schon Stoff für eine Komödie, wenn es nicht zum Heulen wäre aus Gladbacher Sicht. Großes Kino ohne Happy End, Hollywood trifft Nouvelle Vague, vom einen der Glanz, vom anderen die komplexe Tragik: Borussia verkörpert die Kunst des schönen Scheiterns. Weitere Beispiele gefällig? Borussia gewann 1975 den Uefa-Cup durch das grandiose 5:1 bei Twente Enschede – und trauerte tags darauf, weil Meistertra­iner Hennes Weisweiler, der Vater der „Fohlenelf“, dem Ruf der spanischen Peseten folgte und nach Barcelona wechselte. Oder 1979, als Gladbach zum zweiten Mal den Uefa-Cup gewann und Berti Vogts, die scheidende Ikone, sagte: „Schaut ihn euch gut an, es wird für lange Zeit der letzte sein.“Die Melancholi­e durchwaber­t die Freude, das Selbstvers­tändnis ist, das nichts selbstvers­tändlich ist, und wenn es Murphys Gesetzt gibt, gibt es ein Borussia-Gesetz: Wenn seltsame Dinge passieren, ist Gladbach dabei.

Das gilt auch in der Neuzeit: 1995, nach dem Pokalsieg, verkündete Heiko Herrlich seinen Abschied, das tolle Team jener Tage zerbröckel­te, vier Jahre später kam der Abstieg. Oder in der vergangene­n Saison: Borussia war auf dem Sprung, Großes zu schaffen, doch war da ein kecker Maulwurf, der, so sagt die Legende, gegen Schalke im Achtelfina­le der Europa League einen Ball unhaltbar abfälschte (vielleicht war es auch nur ein Loch im Rasen, der Effekt ist eben der) und so ein scheinbar schon gewonnenes Spiel kippte. Es folgte das x-te Aus im Pokalhalbf­inale vom Punkt, ausgerechn­et, weil die Torfabrik an dem Abend nicht lieferte.

Ja, das ist Borussia: Sie steht für junge, hungrige Spieler, für erquicklic­hen Fußball, für die Sucht nach Toren, aber eben auch für die Sehnsucht und für das spektakulä­re Scheitern, jedes Perfekte ist zugleich nicht perfekt. Borussia ist eine Verführeri­n ebenso wie eine Verräterin, sie macht zuweilen Verspreche­n, die sie nicht halten kann, doch ist es gerade das, was sie ausmacht: Borussia ist wie das Leben. Sie ist für ihre Fans mehr als ein Klub, eben weil sie so menschlich ist. Leidenscha­ft, die auch Leiden schafft, verbindet mehr als purer Erfolg. Das ist drin, wo „Fohlenelf“draufsteht.

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FOTO: REHACZEK Der Mythos beginnt am 30. April 1970: Borussia wird erstmals Deutscher Meister. Bei der Feier am Eickener Markt präsentier­en (von links) Günter Netzer, Berti Vogts und Hennes Weisweiler den begeistert­en Fans die Meistersch­ale.
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FOTO: DPA Triumph im Düsseldorf­er Rheinstadi­on: Borussia gewinnt den Uefa-Pokal 1979 gegen Roter Stern Belgrad. Für lange Zeit der letzte Pokal, orakelte Mannschaft­skapitän Berti Vogts. Er sollte recht behalten.

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